Von Andrea Amri-Henkel

Wikipedia sagt zum Patriarchat: „Patriarchat“ (wörtlich ‚Väterherrschaft‘) beschreibt […] ein System von sozialen Beziehungen, maßgebenden Werten, Normen und Verhaltensmustern, das von Vätern und Männern geprägt, kontrolliert und repräsentiert wird.“

Frauen schenken Bier aus oder kümmern sich zu Hause um die Kinder. Willkommen im Jahr 2018 in Lüneburg. ©PeterKraavanger

In Lüneburg haben wir eine besondere Ausprägung eines solchen Systems. Diese Geschichte handelt davon.

Als ich im November 2016 für die Linkspartei in den Stadtrat von Lüneburg einzog, wollte ich mich vor allem auch für Feminismus und gegen Rassismus engagieren. Das war für mich selbstverständlich. Da ich Mutter zweier Kleinkinder bin, ist auch privat das Thema Geschlechterrollen und Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Politik dauerhaft präsent. Mein Partner und ich arbeiten beide in Teilzeit und teilen uns eigentlich auch sonst alles. Das gilt nicht nur fürs Private, sondern auch fürs Politische – wir sitzen gemeinsam im Stadtrat.

Andrea Amri-Henkel (*1987) ist Kommunalpolitikerin für die Linkspartei in Lüneburg. Sie hat in Köln und Lüneburg studiert und schreibt ihre Doktorarbeit im Querschnittsbereich Gender und Nachhaltigkeit. Im Stadtrat sitzt sie seit den Kommunalwahlen 2016 gemeinsam mit ihrem Partner David. Die beiden haben zwei Kinder.

Gleich zu Beginn der Ratsperiode brachten wir insgesamt zwei Mal unseren damals vier Monate alten Sohn mit in die Ratssitzung. In diesem Alter schlief er sowieso die meiste Zeit. Da ich noch stillte, war das für uns nicht nur die beste und einfachste, sondern auch die einzige Möglichkeit, unser Mandat auszuüben. Ist ja auch normal. Dachten wir.

Was wir nicht bedacht hatten war, dass Lüneburgs „dienstältester Bürgermeister seit dem Zweiten Weltkrieg“ (hansestadtlueneburg.de) gerade seine Mehrheit im Stadtrat verloren hatte. Eine Jamaika-Koalition hatte sich gegen ihn und seine SPD verbündet. Aus unerfindlichen Gründen machte er dafür auch die Linksfraktion – der ich angehöre – mitverantwortlich. Dabei hatte nur einfach niemand mehr Lust, mit ihm zu arbeiten. Dominanz wurde hier und da als Grund genannt.

Der Machtkampf war also schon in vollem Gange, noch ehe der neue Rat seine Arbeit aufgenommen hatte. In der zweiten Ratssitzung geriet ich dann mitten hinein. Als eine Sitzung mal wieder bis in den späten Abend gedauert hatte, spazierte ich selbstbewusst nach vorne. Mein Ziel: mich beim Ratsvorsitzenden über das kontinuierliche und nicht satzungsgemäße Überziehen der Sitzungszeiten beschweren, was es Eltern mit Kindern erschwert, an ehrenamtlicher Politik teilzuhaben. Meinen Sohn hatte ich auf dem Arm. Mein Partner hatte die Sitzung vorzeitig verlassen, um die Babysitterin für unseren älteren Sohn abzulösen. An diesem Abend lernte ich: Beschweren ist etwas, das in der Ratspolitik der vorwiegend älteren Herren nicht vorgesehen ist. Zumindest nicht, wenn die Beschwerdeführerin eine Frau ist. Stattdessen wurden der Oberbürgermeister und seine Sozialdezernentin auf mich aufmerksam. Eine Ratssitzung sei nicht der richtige Ort für ein Baby, vor allem nicht, wenn die Stimmung so vergiftet sei. Ob ich nicht merken würde, dass mein Kind leide. Als Sozialdezernentin überstehe man dem „Jugendamt“ und kenne „solche Fälle“. Jugendamt. Solche Fälle. Ich stand da, völlig perplex. Ehe ich in der Lage war zu reagieren, hatte sich der Raum geleert.

©PeterKraavanger

Kurze Zeit später erhielt ich eine Anfrage von einem Lokalredakteur unserer Stadt. Es war sexistischer Müll. Aufgrund der gesellschaftlich-geschlechtlichen Rollenverteilung war ich wohl als zuständig befunden worden. Folgende Fragen waren darunter:

–  Warum bringen Sie Ihr Kind mit? Glauben Sie, dass eine abendliche Ratssitzung der richtige Ort für einen Säugling ist?
– Wie können Sie bei der Aufmerksamkeit, die Sie Ihrem Kind schenken, der Ratssitzung selbst folgen? Sind Sie da noch in der Lage, Ihr Mandat voll und ganz auszufüllen?
– Sollte es eine Obergrenze für die Anzahl von Säuglingen und Kleinkindern in der Ratssitzung geben?
– Sollten Ratsmitglieder auch ihre pflegebedürftigen Angehörigen mit in die Ratssitzung bringen dürfen?

Mein Partner und ich entschieden uns gegen eine Beantwortung der Fragen und forderten die Zeitung energisch auf, das zurückzuziehen. Mein Partner erhielt daraufhin eine Nachricht des Lokalchefs. Darin stand: „Lieber Herr Amri, liebe Frau, die Anfrage ist obsolet.“ Im ersten Moment waren wir erleichtert.

Aber wie war es zu solch einer Anfrage gekommen? Wie stand die Redaktion dazu? Ich rief den Lokalchef persönlich an. Meine Erwartungen: Eine Entschuldigung oder ein Angebot für eine sachliche Auseinandersetzung? Vielleicht. Eine Erklärung? Zumindest. Dem Lokalchef war offensichtlich nicht klar, was ich noch von ihm wollte. In der Redaktion habe es „Gerede“ gegeben. „Vor allem Frauen“ hätten es bedenklich gefunden, dass ein Baby in eine Ratssitzung mitgebracht werden müsse. Gespräch beendet. Keine Entschuldigung. Dafür Stigmatisierung. Für mich war nichts „obsolet“.

Aufgrund des offensichtlich sexistischen Gehalts der Anfrage entschieden sich die Grünen für eine Thematisierung im Stadtrat. Eine Entschuldigung sollte erwirkt werden und der Ombudsmann wurde verständigt. Der Lokalchef verfasste daraufhin einen Blog Artikel: „Lüneburgs Rat will LZ (Landeszeitung) an die Kandare nehmen“. Darin bezeichnete er das Zurückziehen des Fragenkatalogs als „Riesenfehler“ und erklärte ihn obendrein im Nachhinein zur Satire. Diese Umwidmung sprach jeder Kritik an den Fragen die Legitimation ab. Der Lokalchef vermutete zudem die Gefahr, dass unser Baby („der rote Infant“, wie er ihn nannte) die Geheimnisse aus nichtöffentlichen Sitzungen „nachplappern“ könnte. Absurd. Doch damit nicht genug: Er behauptete, wir würden die Pressefreiheit einschränken. Wir würden in Lüneburg Trump’sche Verhältnisse schaffen.

Nach dem Blog-Artikel des Lokalchefs zogen viele Ratsmitglieder, außer den Grünen, ihre Solidarität zurück. Einige taten dies direkt in den Kommentaren unter dem Artikel. Ich war jetzt die überempfindliche Emanze, die durch falsche Anschuldigungen „Fake News“ verbreitet, obwohl doch eigentlich gar nichts passiert war. Alle Klischees wurden bedient. Die bissige Feministin, die keinen Spaß versteht und der „jedes Gespür für Satire“ fehlt. Auf einmal war nicht mehr der Fragenkatalog, sondern die „Intervention des Rates“ der „Skandal“. Es wurde von „Grundrechtsbeugung“, von einem „denunziatorischen“ Verhalten meinerseits und von „offenem Angriff auf die Pressefreiheit“ gesprochen.

Jemand schrieb, mir sollte das Mandat entzogen werden. Überwiegend Männer (aber auch einige Frauen) diskutierten unter dem Artikel mindestens implizit darüber, ob ich nun eine Rabenmutter sei oder nicht. Vom Vater keine Rede. Der Rat sei „um die Uhrzeit für ein Kind im Alter eines Säuglings sicher nicht der richtige Platz“.

Damit nicht genug. In einem gleichzeitig erscheinenden Artikel wurde kritisch über die ganze kommunale Gleichstellungspolitik berichtet. Man hatte den Eindruck, die Zeitung rächte sich am Feminismus insgesamt.

Animiert von der zunehmenden öffentlichen Entsolidarisierung uns und namentlich mir als öffentlich für zuständig empfundenen Mutter gegenüber, wurde in unserer Abwesenheit mehrfach das Mitbringen unseres Babys im Zusammenhang mit dem Begriff Kindeswohlgefährdung“ thematisiert. Bei Hinweisen von Dritten auf Kindeswohlgefährdung müsse die Verwaltung, als dem Jugendamt vorstehend, handeln.

©Missy Magazine

Jugendamt. Kindeswohlgefährdung. Zur Erinnerung: All das passierte, weil wir zwei Mal unser vier Monate altes Baby mit in eine Ratssitzung gebracht hatten!

Ich war in den Rat eingezogen mit der Motivation, mich für Feminismus, gegen Sexismus, gegen Rassismus und jede andere Diskriminierung einzusetzen. Ich hielt es auch politisch für richtig, die Themen Vereinbarkeit und Geschlechterrollen in dieser Art öffentlich sichtbar zu machen, indem ich zeigte: Es ist kein Problem, ein Baby mit in eine Sitzung zu bringen und dort zu stillen – dafür muss man nicht zu Hause bleiben. Und indem wir gemeinsam zeigten: Wir kümmern uns gleichberechtigt um unser Baby und das ist vollkommen normal.

Die Enttäuschung war bitter und macht mich bis heute fassungslos. Wir überlegten, wie wir uns wehren könnten – was nun zu tun sei. Zur Tagesordnung übergehen, wurde appelliert. Aber für mich gab es keine normale Tagesordnung mehr; zumindest nicht im Stadtrat. Es ist ein Scheißgefühl, wenn ein lokales Meinungsmonopol zum Schweigen verurteilt.

Es muss gebrochen werden. Weil sich sonst nie was ändert.

Auf kommunaler Ebene zeigt sich das Patriarchat besonders beharrlich: Kommunalparlamente sind überwiegend männlich, weiß und alt. Der Frauenanteil verharrt seit Jahrzehnten bei erschreckenden 27 Prozent, der Anteil weiblicher Oberbürgermeisterinnen bei knapp über 10 Prozent. Eine Studie nennt konservative Rollenbilder als Grund. Es muss sich was ändern: in den Parteien, den Parlamenten und den Lokalredaktionen.

Wenige Monate nachdem unser Baby im Lüneburger Stadtrat einen Eklat ausgelöst hatte, wurde in Australien das Stillen im Parlament gesetzlich erlaubt – auch in Deutschland ging das groß durch die Medien und wurde überwiegend positiv reflektiert. Keine der Zeitungen, die darüber berichteten, sprach von „Kindeswohlgefährdung“, „Rabenmutter“ oder der Gefahr, dass die Babys Geheimnisse ausplaudern könnten. Ein Online-Magazin schrieb: „Dürfen Mütter ihr Baby in der Öffentlichkeit stillen oder geht das zu weit? Wie sieht’s mit Politikerinnen im Parlament aus – dürfen die das? Man kann natürlich auch andersherum fragen: Wie weit hinterm Mond muss man wohnen, um das im 21. Jahrhundert überhaupt noch infrage zu stellen?“