Interview Lea Fauth

Feminismus setzt sich für die Gleichberechtigung von Frauen ein. Warum braucht es einen dekolonialen Feminismus?
Es gibt einen institutionellen Feminismus, der mit dem Glauben an den Staat und die Gesetze verbunden ist. Meiner Meinung nach hat sich erwiesen, dass das nicht ans Ziel führt, weder hier noch dort. Hier in Europa vielleicht noch eher, weil die Beziehung zwischen Gesellschaft und Staat eine andere ist. In unseren kreolischen Republiken dagegen ist die Staatsgründung als solche schon kolonial, die Staaten gehen aus der Kolonialisierung hervor und sind ihr Erbe.

©Rita Segato

Was ist im Gegenzug dekolonialer Feminismus für Sie?
Ein Feminismus, der diese gerade beschriebene Struktur anerkennt und damit beginnt, an ihr zu arbeiten. Unsere Seite in der Geschichte ist die des Pluralismus. Was wir bekämpfen sind Monopole. Was heißt das? Bei Monopolen gibt es eine einzige Wahrheit, eine einzige  Gerechtigkeit, eine Vernunft, eine Logik, eine einzige Form des Guten. Das ist der Westen. Unser Kampf aber orientiert sichl an der Idee des Pluralismus. Es gibt verschiedene Wahrheiten, Welten, und verschiedene Formen des Guten. Am 8. März kommen die verschiedenen Formen des Feminismus zusammen, auch der von Catherine Deneuve.

Catherine Deneuve, die in der #Metoo Debatte für die „Freiheit zu belästigen“ geworben hat?
Na klar. Wenn ich sage, der Pluralismus ist unsere Seite der Geschichte, heißt das auch, dass wir neben dem dekolonialen Feminismus mit dem institutionalen Seite an Seite kämpfen können.

Worin besteht dekoloniale Emanzipation?
Ich kann nur von  meiner eigenen Welt sprechen und verstehen, dass es andere Welten gibt. Deshalb ist es auch ein großer Fehler, wenn europäische NGOs mit großen Geldmitteln kommen, um lateinamerikanischen und indigenen Frauen zu lehren, was sie zu wollen haben. Das ist schlecht.
Ich kann das an einem Beispiel erklären, das für mich selbst schmerzhaft ist. Selbstverständlich bin ich für das Recht auf Abtreibug. Ich würde sogar sagen: Das Abtreibungsverbot ist Gewalt durch den Staat. Trotzdem: Im Norden Brasiliens gibt es indigene Gemeinden, die gegen Abtreibung sind. Denn eines der wichtigsten Themen dieser Gemeinden ist ihre demografische Wiederherstellung. Sie wurden beinahe ausgerottet. Es gibt zum Beispiel Gemeinden, die zu einem Zeitpunkt nur noch auf sechs Personen kamen. Und heute sind sie 300. In dieser Gemeinde ist Abtreibung sehr eingeschränkt. Aber was passiert: Wenn eine Frau ein Kind bekommt, das sie nicht möchte, zirkulieren die Kinder in diesen Gemeinden. Dass ein Kind in einer Familie geboren wird und von anderen großgezogen wird, ist dort absolut normal.

Rita Laura Segato, geboren am 14.08.1951 in Buenos Aires, ist Anthropologin und Feministin, die ihren Wohnsitz zwischen Brasilia (Brasilien) und Tilcara (Argentinien) hat. Sie ist besonders für ihre Forschungen über Genderfragen in indigenen und lateinamerikanischen Gemeinden bekannt, sowie für ihre Forschung über Gendergewalt und die Beziehung zwischen Gender, Rassismus und Kolonialität. Sie veröffentlichte unter anderem „Las estructuras elementales de la violencia“, sowie „la critica de la colonialidad en ocho ensayos“.

Wie wird in solchen Gemeinden Genderbinarismus überwunden?
Binarismus hat nichts mit Zwei zu tun. Es ist ein Irrtum, von Binarismus zu sprechen. Binarismus ist die Welt des Einen. Das Andere ist eine Funktion des Einen, wie ein Hebel. Das wurde im postkolonialen Denken aufgezeigt. In Opern, Romanen gibt es immer den Schwarzen oder den aus der Karibik, der dem Europäer sagt, dass er Europäer ist: Du bist der Eine. Das ist Binarismus. Und die Frau ist das Andere vom Mann, wo der Schwarze das Andere vom Weißen ist.

Heißt das: Es gibt in indigenen Gemeinden keinen Binarismus?
Es gibt Dualismus. Ich unterscheide zwischen Dualismus und Binarismus. Dualität ist eine der Formen von Pluralität. In der Dualität gibt es eine Vertauschbarkeit der Positionen. Der Kreolismus hat aber etwas zerstört, was sehr üblich in den indigenen Gemeinden war, nämlich die Vertauschbarkeit oder das Transitionieren zwischen den männlichen und weiblichen Positionen. Es gab Frau-Männer und Mann-Frauen, und es gab Variationen von Männnlichkeit und Weiblichkeit. All diese Transiten werden mit dem Binarmismus abgeschafft.

Diesen Binarismus des Einen bekämpfen auch westliche LGTBI-Personen. Worin genau besteht der Unterschied im dekolonialen Feminismus der indigenen Gemeinden?
Der Unterschied ist, dass du von einer Suche nach Gleichheit redest. Das ist sicherlich ein respektabler Wert, aber das impliziert Gleichheit zwischen Individuen. So etwas
funktioniert in indigenen Gemeinden nicht, denn es gibt Gruppen von Individuen, oder Klassen.
Am vergangenen 8. März fiel mir der Slogan auf: „Für eine Welt ohne Hegemonien“. Das müssen wir verfolgen. Eine plurale Welt ist eine Welt ohne Hegemonien. Wir müssen Unordnung schaffen.

Das klingt so, als sei das Patriarchat erst mit dem Kolonialismus in die Gemeinden gekommen. In Ihren Abhandlungen wollen Sie aber eine Idealisierung der indigenen Gemeinden vermeiden.  Sie schreiben, dass das Patriarchat dem Kolonialismus vorausgeht.
Ich begründe das unter anderem damit, dass es auf allen fünf Kontinenten, wenn auch nicht in allen menschlichen Gesellschaften, so etwas wie den Adamsmythos gab: Demnach gab es eine idyllische und paradiesische Gesellschaft, in der es an nichts fehlt. Dann begeht die Frau, das Weibchen, einen Fehler, ist auf diverse Arten ungehorsam: Sie kümmert sich nicht um die Herde, sie isst den Apfel, sie hinterlässt Menstruationsblut…  Dafür wird sie bestraft, und verliert dabei ihren Wert und ihre Macht, aber vor allem ihre Unabhängigkeit.
In sehr vielen Gesellschaften gibt es in diesem sehr frühzeitigen Moment der Artenbildung, bei dem die Spezies Mensch entsteht, solch einen Ursprungsmythos. Artenbildung wäre in Wirklichkeit also Patriarchalisierung. Ein Moment, in dem die Muskelkraft des Männchens und seine höhere Aggressivität sich zu einem Narrativ bilden, das wir heute als Mythos betrachten. Von diesem Narrativ behaupte ich, dass es politisch  und nicht naturgegeben ist, weil es sich auf eine Ursprungserzählung bezieht. Es braucht Gesetze, also ist es politisch.
In diesem Sinne sage ich in einem meiner ersten Bücher (Las Estructuras elementales de la violencia, Anm. d. Red.), dass wir uns heute immer noch in einer patriarchalen Frühzeit der Menschheit befinden. Und da es sich um eine politische Ordnung handelt, kann sie verändert werden.