Von Sonja Eismann

Früher war ich eine der Personen, die sich im Zug entnervt einen anderen Sitzplatz suchen, wenn irgendwo in der Nähe ein lärmendes Kind zu hören ist. Die im Flugzeug böse Blicke nach hinten werfen, wenn Kinderfüße begeistert gegen die Rückenlehne treten. Die bei der Verkündigung einer Schwangerschaft nicht „Glückwunsch!“, sondern „Oje, dieses Leben ist jetzt vorbei“ denken.

@ Eva Feuchter

Moment mal, eine dieser Personen? Vielleicht war ich mit meiner nicht gerade kinderfreundlichen Haltung ja auch mehr oder weniger alleine – im Rückblick und aus der Position einer Person, deren Kinder heute gerne im Zug laut singen oder ausdauernd gegen Flugzeugsitze treten, hoffe ich es zumindest. Doch auch wenn meine bewusst biestige Attitude sicherlich zugespitzt (und unsozial) war, war sie doch symptomatisch für eine Spaltung, die ich heute noch genauso stark, wenn nicht stärker wahrnehme. Westliche Gesellschaften dividieren sich  zusätzlich zu zahlreichen anderen, ebenso unnötigen Trennlinien  in Eltern und Nicht-Eltern. Dabei werden beide Seiten von vielen schönen bis beschissenen Erfahrungen, Privilegien und Benachteiligungen abgeschnitten. Wäre es nicht spitze, wenn beide Seiten gemeinsam versuchen würden, für beide Seiten möglichst das Beste rauszuholen, statt still die Privilegien abzugreifen und laut über die Benachteiligungen zu klagen?

Ich weiß noch genau, wie ich mich fühlte, als mein älterer Bruder sein erstes Kind bekam. Ich hätte es in dem Moment nicht so benannt, weil ich mich dafür geniert hätte, aber ich war eifersüchtig. Schrecklich eifersüchtig. Und zwar nicht, weil ich selbst gerne ein Kind bekommen hätte – nichts erschien mir zu diesem Zeitpunkt anstrengender –, sondern weil alle Aufmerksamkeit unserer Eltern nur noch auf das Baby fokussiert war. Dabei konnte das doch noch gar nichts! Während ich feministische Artikel schrieb und Debatten führte! Und außerdem war das doch keine Leistung, sich so zu reproduzieren, wie es die Gesellschaft sowieso von Heteropärchen erwartete. Ich erinnere mich, wie ich damals einem Freund, nur halb scherzhaft, mein Leid klagte: „Ich könnte den Nobelpreis gewinnen und meine Eltern würden sich immer noch nur für ihren Enkel interessieren!“

Im Nachhinein ist mir das natürlich peinlich; nicht nur, weil ich selbst einige Jahre später am eigenen Leib feststellte, dass einer*einem angesichts der Geburt eines Babys der Nobelpreis oder Ähnliches – vorübergehend zumindest – tatsächlich eher egal erscheint (nicht dass ich selbst irgendwelche Preise gewonnen hätte, wenn mir auch in der ersten Zeit das österreichische Karenzgeld wie eine Prämie für eine Nicht-Leistung erschien, weil doch die Geburt in keinem Zusammenhang mit Lohnarbeit stand, über die ich gelernt hatte mich zu definieren). Und weil die Familie meines Bruders von mir heiß geliebt wird. Sondern auch, weil mir retrospektiv mein kindlicher Narzissmus mit über dreißig Jahren ein wenig, ähm, disproportional vorkommt.

An Narzissmus war als frisch gebackener Elternteil jedenfalls erst mal nicht mehr zu denken, und der Einschnitt in die Selbstbestimmung, den diese (zum Glück mit dem anderen Elternteil gleichberechtigt geteilte) Rund-um-die-Uhr-Verantwortung bedeutete, war wahrscheinlich die massivste Veränderung, die ich in meinem Leben je erfahren habe. Von daher stimmte also, was ich früher schreckerfüllt über Elternschaft gedacht hatte: Mein altes Leben war vorbei. Dabei wollte ich das doch gar nicht!

In unserer Kolumne Missyverse bloggt die Redaktion des Missy Magazines, immer im Wechsel. Ab sofort, jeden Freitag.

Ich musste jedoch feststellen, dass meine Freund*innenkontakte sehr schnell sehr viel dünner wurden. Das lag zum Großteil daran, dass ich viel weniger Zeit hatte und oft müde war. Doch wenn ich mich aufraffte und zu den gleichen Veranstaltungen wie früher ging, fühlte ich mich wie ein Fremdkörper, der nicht mehr in die Gemeinschaft vorgelassen wird. Wenn ich den Kinderwagen dabei hatte, passierte es mir sogar, dass Bekannte mich nicht erkannten oder Leute einfach durch mich hindurchsahen. Gerade in queer-feministischen Kreisen gingen wohl einige davon aus, dass nicht nur mein Körper, sondern auch mein Geist eine Transformation durchgemacht hätte. Von einer feministischen Journalistin, die ich nur einmal kurz getroffen hatte, wurde mir zugetragen, sie hätte über mich gesagt: „Oje, die haben wir jetzt auch an die Reproduktionsfront verloren.“

Ich erinnere mich auch, wie ich bei Leuten ohne Kinder versuchte, meine neue Identität als Elternteil möglichst auszuklammern, um diese nicht mit langatmigem Gebrabbel über feste Nahrung und Stuhlkonsistenzen zu langweilen. Ich wollte auf keinen Fall als stereotypes Muttertier abgestempelt werden und beschränkte daher meine Konversationen über das Elternsein auf Elternzirkel – die ich de facto nicht hatte, denn in meinem Bekanntenkreis war ich die Erste mit einem Kind, die ich aber dringend gebraucht hätte, um nicht mit meinen Sorgen (und Freuden!) allein zu sein. Im Hinterkopf hatte ich dabei stets die frühere Version meines Ichs, die Kinder als nervige Anhängsel empfand, die die wirklich wichtigen, sprich: erwachsenen Abläufe störten. Ich brauchte relativ lange, bis ich feststellte, dass eine generalisierte Kinderfeindlichkeit genauso scheiße ist wie z. B. Trans- oder Dickenfeindlichkeit. Auch heute noch gibt es in meinem Umfeld Personen, denen ich unterstelle, dass sie es cool finden, Kinder überflüssig zu finden. Was jedoch mit Subversion nichts zu tun hat, sondern eher mit einer neoliberalen Agenda, nach der alle sich selbst am nächsten sind und Solidarität mit Schwächeren Zeitverschwendung ist.

Während auf der einen Seite also vielleicht vermutet wurde, ich hätte mich komplett ins reaktionär heteronormative Lebensmodell verabschiedet (um diesen Eindruck zu konterkarieren, saß ich u. a. schon zwei Wochen nach dem Kaiserschnitt wieder am Schreibtisch und habe weiter – damals noch unbezahlt – für Missy gearbeitet), unterstellte ich der anderen Seite den kindlichen Narzissmus, den ich früher selbst an den Tag gelegt hatte, und war darauf gleichzeitig neidisch: keine durch verzweifeltes Babyweinen zerrissenen Nächte, keine Ängste wegen plötzlicher Fieberanfälle, keine Auseinandersetzungen um Betreuungszeiten und Zeit für sich (was ist das, frage ich mich heute noch), stattdessen freie Abende, freie Wochenenden, spontane Reisen. Freiheit Freiheit Freiheit, und bei mir: Verantwortung Verantwortung Verantwortung.

Auch damals wusste ich schon, dass umgekehrt auch die Entscheidung für Kinder als Narzissmus interpretiert werden kann, als Zukunftsprojektion oder als Spiegelung des eigenen Ichs, aber ich war mir inmitten all der Anstrengungen der gesellschaftlichen Privilegien des Elternseins nicht wirklich bewusst. Doch wenn ich heute mit zwei Kindern die Straße entlanglaufe, begegnen mir Reaktionen, die mir signalisieren, dass ich nach westlichen Vorstellungen eines gelingenden Lebens alles richtig gemacht habe: Ich habe nicht zu wenige und nicht zu viele Kinder bekommen, wir sind able-bodied, weiß und nicht offensichtlich arm. Mein (vermuteter) Lebensentwurf erntet ungefragt Anerkennung, während (vor allem) cis Frauen ab einem gewissen Alter ständig mit der Frage und dem stillen Vorwurf konfrontiert werden, ob und wann Nachwuchs geplant sei (und Personen mit zu vielen, zu wenigen oder den „falschen“ Kindern bösartigen Unterstellungen ausgesetzt sind, aber das ist eine andere Geschichte).

Mitunter ertappe ich mich beim Reflex, wenn Single-Bekannte ohne Kinder von schlimmen schlaflosen Nächten berichten, höhnisch zu denken: „Also bitte! Wenn die wüssten, was wirklich eine durchwachte Nacht ist, mit einem kranken Baby, das alle fünf Minuten schreiend aufwacht, nachdem schon der Tag zuvor von Weinanfällen, irgendwie dazwischen zu erledigender Lohnarbeit und zermürbenden Haushaltstätigkeiten gezeichnet war!“ Doch dann erinnere ich mich daran, wie dezidiert ungeil sich zu eigenen Singlezeiten nächtliche Sorgen angefühlt haben, begleitet von dem lähmenden Gefühl, alles allein regeln zu müssen. Und daran, dass mit einem hilflosen, zerknautschten Säugling die meisten Menschen Mitleid haben, mit einem mittelalten, zerknautschten Single allerdings weniger.

Statt auf die jeweils andere Seite Klischees zu projizieren (verkniffene Familienspießer*innen versus verantwortungslose Hedo-Narzisst*innen), würde ich mir wünschen, dass es zumindest ein bisschen mehr Kommunikation zwischen den Lebensmodellen mit und ohne Kind gibt. Und zwar nicht nur in dem Sinne, dass beide vollständig anerkannt werden und nicht als defizitär gesehen werden, was meiner Meinung nach ohnehin selbstverständlich sein sollte. Sondern auch in der Weise, dass es aktive Bemühungen gibt, die Grenzen durchlässiger zu machen: dass nicht nur die Eltern mit den Nicht-Eltern abends ausgehen, sondern dass die Nicht-Eltern auch die Kinder als eigenständigen Teil der Gemeinschaft anerkennen (ich habe es z. B. schon oft erlebt, dass meine achtjährige Tochter, wenn sie sich im Laden an der Theke anstellt, ignoriert wird und der/die nächste Erwachsene bedient wird oder dass erwachsene Freund*innen einfach weiterreden, wenn ein Kind ein Anliegen hat, als wäre es gar nicht da – das ist Adultismus pur, aber auch das ist eine andere Geschichte).

Sonja Eismann war 2008 eine der Mitbegründerinnen von Missy und schreibt immer noch gerne über Gender und Popkultur.

Dass man Sachen gemeinsam mit Kindern macht und Kinder nicht nur in streng abgezirkelte Räume vorgelassen werden, damit sie ja keine Erwachsenen stören, und dass man Sachen nur mit erwachsenen Freund*innen macht. Dass die Freuden und Nöte beider Seiten ernst genommen werden und nichts davon priorisiert oder als trivial abgewertet wird, damit niemand nur noch in seiner eigenen Bubble versauert. Dass solidarisch versucht wird, gemeinsam Stärken und Schwächen auszugleichen, und dass auch politisch dafür gekämpft wird. Denn auch wenn hier bis jetzt vor allem an individuelles Verhalten appelliert wurde, dürfen wir nicht vergessen, dass die Rahmenbedingungen vom Leben mit oder ohne Kinder/n politisch gemacht sind und auch nur so geändert werden können. Gemeinsam.