„Nein, der passt auch nicht“, schmollte Cinderella und warf den Schuh genervt auf den Stapel, der sich in der letzten halben Stunde gebildet hatte. Bisher wollte keiner der unzähligen Schuhe richtig an ihre Füße passen, weder die Pumps noch die Sandaletten, mittlerweile war sie bei den Ballerinas angelangt. Sie seufzte und warf einen Blick auf die Einkaufstüte, in der das Eis sicher längst geschmolzen war – immerhin waren die Linsen noch gut, sonst würde sie von ihrer Stiefmutter mal etwas zu hören kriegen. „Wer macht bloß eine Linsendiät?“, murmelte Cinderella, da sie immer kiloweise von den braunen Hülsenfrüchten nach Hause tragen musste.
„Was meintest du?“, murrte ihre Stiefschwester Casey, die eben mit dem letzten Paar Schuhe in Cinderellas Größe hinzugetreten war. Charlene, ihr Zwilling, folgte ihr wie immer auf dem Fuss und blickte ebenso gelangweilt in die Weltgeschichte.
„Ach nichts“, antwortete Cinderella und nahm die Pumps von ihrer Stiefschwester entgegen. Während sie die Schuhe anprobierte und ihren Verdacht bestätigt sah, dass auch diese nicht passten, lamentierte Charlene: „Ich sehe einfach nicht ein, wieso wir mit dir Schuhe für den Abschlussball kaufen müssen, Cindy. Und das nur weil Paps nicht will, dass du total peinlich ausschaust.“
Casey wandte sich ihrer Schwester zu und erklärte: „Ach weißt du, selbst bringt sie das halt nicht fertig, es ist ja nicht so, als hätte sie eine Ahnung, wie sich ein Mädchen anzieht.“ Mit einem bedeutungsvollen Blick auf Cinderellas alte Stiefel, ihren karierten Rock und die große Brille fügte sie hinzu: „Sie ist ein totaler Nerd.“
Obwohl sie jedes Wort gehört hatte, ignorierte Cinderella die Sticheleien ihrer Stiefschwestern so gut sie konnte und kämpfte weiter mit den auf Hochglanz polierten Lackschühchen, welche sie sich eher an den Füssen einer Dame am Strassenrand vorstellen konnte als an ihren eigenen. Jedoch schien Casey noch nicht fertig zu sein, denn sie fuhr unbeirrt fort: „Ich mache mit dir eine Wette: Wenn Cindy morgen Abend am Ball nicht alleine nach Hause geht, werde ich freiwillig einen Monat lang die Linsen für Mom einkaufen. Wer im Garten ein Bäumchen für die tote Mutter pflanzt, jeden Tag darunter sitzt und in einem Buch liest, ist doch nicht attraktiv.“
„Da halte ich nichts dagegen, die kriegt sowieso nie einen Mann ab“, antwortete Charlene grinsend. „Vielleicht ist sie ja eine Lesbe?“
Wütend warf Cinderella die Schuhe auf den Stapel und fuhr ihre Stiefschwester an: „Na und, haste ein Problem damit? Immerhin bringe ich gute Noten nach Hause, ihr nur den neusten Klatsch!“ Genervt stand sie auf, zog ihre alten Stiefel an und murmelte im Davonschreiten: „Blöde Zicken.“

Etwas trotzig und unsicher stand Cinderella in dem grossen Mehrzwecksaal, der für den Abschlussball aufwändig dekoriert worden war. Sie hatte am Ende doch ihre alten Stiefel angezogen – einerseits, weil sie keine anderen Schuhe gefunden hatte und andererseits, weil sie die Geduld mit ihren lästernden Stiefschwestern, die überall auf der High School Gerüchte über sie verbreiteten, verloren hatte. Sie hatte sich nicht einmal ein Ballkleid angezogen, sondern war gleich in ihren normalen Klamotten aufgetaucht. Jetzt stand sie abseits und beobachtete die tanzenden und flirtenden Teenager, die in ihrer unbeholfenen pubertären Art so zu tun versuchten, als ob sie das Leben wirklich verstanden: Die Mädchen trugen möglichst kurze Kleider und die Jungs rochen derart stark nach Deodorant, dass Cinderella dachte, sie müsste sich jeden Moment übergeben. „Das ist kein Abschlussball, sondern eine einzige riesige Performance“, murmelte sie so, dass sie bei der lauten Musik niemand hören konnte. Nein, sie hatte kein Date gefunden, doch von nun an konnte es ihr egal sein was die anderen von ihr dachten, denn sie würde nie mehr auf diese Schule gehen müssen. Ihr Blick fiel auf ihre beiden Stiefschwestern, die mit ihren Dates, beides mittelmässige Jungs aus kleinbürgerlichen Familien, tanzten und sie wollte eben einen sarkastischen Kommentar vor sich hin flüstern, als ihr jemand auf die Schulter tippte. Cinderella schrak zusammen und fuhr herum. Im von den flackernden Disco-Lichtern erhellten Halbdunkel konnte sie die letzte Person erkennen, von der sie erwartet hätte, angesprochen zu werden. Ashley war die Königin der Cheerleader, ein grosses, blondes, schlankes Mädchen, das bei allen beliebt zu sein schien und den Ruf hatte, auf jede Party eingeladen zu werden – der Traum jedes Jungen an dieser Schule. „Was?“, fragte Cinderella verwirrt, um über die laute Musik gehört zu werden. Obwohl sie nie besonders viel mit Ashley zu tun gehabt hatte, machte sie sich bereits auf einen verbalen Tiefschlag gefasst. Sie hatte in den letzten Jahren gelernt, dass es selten gut für sie ausging, wenn zwei Welten kollidierten.
„Mir gefallen deine Schuhe“, rief Ashley und nickte in die Richtung ihrer Füsse.
„Komm schon, mach deinen Witz und lass mich in Ruhe“, murrte Cinderella lustlos.
„Nein, wirklich“,  gab Ashley zurück und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Du scheinst die einzige vernünftige Person hier im Raum zu sein. Und du bleibst dir selbst treu.“
Cinderella wusste nicht genau, was sie antworten sollte, doch Ashley fuhr auf ihren fragenden Blick hin fort: „Glaubst du, dass du die einzige bist, die nicht als gelangweilte Hausfrau in einer der todlangweiligen Vorstädte enden will? Auf dieser Schule hatte ich keine echten Freunde, bloss Neider.“
„Okay“, antwortete Cinderella gedehnt und etwas unsicher, bevor sie sich erkundigte: „Aber was willst du von mir?“
„Ich habe gehört, dass du auch am MIT studieren wirst und ich möchte wenn ich aufs College gehe endlich echte Freunde haben. Ich kenne dich zwar nicht gut, aber bisher hast du am sympathischsten gewirkt. Möchtest du mit mir befreundet sein?“
Ungläubig blickte Cinderella auf und erwiderte zögernd: „Klar, wieso nicht?“
„Cool“, rief Ashley aus und fragte dann: „Wollen wir von hier verschwinden? Die Leute sind langweilig.“
Für einen Augenblick stellte sich Cinderella die Eifersucht ihrer Stiefschwestern und der anderen lästernden Zicken an dieser Schule vor, dass sie nun mit dem populärsten Mädchen befreundet war und dies bloss wegen ihrer verspotteten Schuhe! Doch dann überlegte sie es sich anders – es spielte keine Rolle, dass Ashley Status hatte, sondern bloss, dass sie eine neue interessante Freundin gefunden hatte. Manchmal waren Schuhe einfach nur Schuhe.