Seit ein paar Tagen kursiert das Video „Opressed Majority“ der französischen Regisseurin Eléonore Pourriat durchs Netz. Alle sind begeistert und finden es wahnsinnig stark. Warum eigentlich?

Filmstill (Eléonore Pourriat)

Als ich das Video Anfang der Woche zum ersten Mal sah, regte sich bei mir – gar nichts. Es war noch, bevor es mich überall auf Facebook anstarrte, noch bevor überall Kommentare zu lesen waren wie: „Sehr wichtig, sich das mal anzusehen. Ein echter Augenöffner.“ Und dieser Augenöffner wird immer wieder geteilt, das Video hat auf Youtube bald 5 Millionen Views erreicht. Alle berichten: der Guardian, Zeit Online, die taz – davor und dazwischen noch viele andere. Alle wollen zeigen, wie es ist, wenn ein Mann einen Tag lang eine Frau ist. Aber ist es das, was wir hier sehen?

[vsw id=“V4UWxlVvT1A“ source=“youtube“ width=“425″ height=“344″ autoplay=“no“]

Generell bin ich der Meinung, dass jedes Mittel gut ist, um Geschlechterungerechtigkeit aufzuzeigen – besonders dann, wenn so viele Menschen damit erreicht werden. Ich möchte auch gar nicht die dröge Feministin sein, die an einer Mainstream-wirksamen Kritik an Alltagssexismus herum nörgelt. Aber dieses Video, irgendwie liegt es mir seltsam schwer im Magen.

Was zählt, ist der Instinkt

Also schaue ich es noch einmal mit einer Freundin. Auch sie berührt der Film nicht. In einem Interview meinte Regisseurin Eléonore Pourriat, dass sie mit „Opressed Majority“ (frz: Majorité Opprimée) beabsichtige, durch die Umkehrung der Geschlechterrollen die ZuschauerInnen für Sexismus zu sensibilisieren. Also müssten meine Freundin und ich mit Pierre mitfühlen, dem Hauptprotagonisten, da er in dieser Umkehrung unsere Rolle spielt. Allerdings: Die Situation, als er auf einer kleinen Straße von einer Gruppe Frauen angepöbelt wird und sich verbal wehrt – mit der Konsequenz vergewaltigt zu werden – sie ist uns seltsam egal. So würde sich für uns nie eine Szene abspielen.

Als Frauen wissen wir: Wenn ich alleine bin und es sind vier Männer da in einer kleinen Straße – ich würde einfach zusehen, dass ich mich schnell verdrücke statt rum zu diskutieren oder Widerworte zu geben. Und das machen wir nicht, weil wir uns nicht verbal wehren könnten, sondern weil unser Überlebensinstinkt, so nennt es die Freundin, größer ist. Die Straßenszene vermittelt auch in anderer Hinsicht ein falsches Bild: Die meisten Vergewaltigungen finden genau nicht auf offener Straße, sondern hinter verschlossenen Türen statt. Die meisten Frauen werden nicht vom „bösen Mann in der einsamen Straße“, sondern von ihrem Partner oder Ex-Partner vergewaltigt.

Leben in Klischees

Viel mehr emotionalisiert hat mich die Szene zuvor, als Pierre mit einem Mann in Burka spricht. Der Mann mit Kopftuch, der anscheinend nicht sprechen kann und stattdessen nur höflich lächelt. Dieses Bild bedient sich des Stereotyps der unmündigen muslimischen Frau, die still erträgt, was ihr Mann und Allah ihr auferlegen. Das ist eine ganz andere Geschichte. Was macht sie hier? Fast wirkt sie schon zynisch, weil wir als ZuschauerInnen ganz deutlich sehen können, dass Pierre, der seinen Freund auf seine Unterdrückung hinweist, sich selbst durch ein dichtes Netz von Sexismen navigiert. Beides sind mögliche Interpretationen dieser Situation – die Regisseurin legt sich formal allerdings auf keine fest.

Der Moment auf dem Polizeirevier mit der Frau von Pierre, die ihn noch halb selbst für die Vergewaltigung verantwortlich macht, ist sehr gut und wahr – aber noch viel stärker wäre das Bild gewesen, hätte der Mann lange Hosen angehabt. Wäre der Mann breitschultrig durch die Straßen mit seinem Fahrrad gefahren. Denn Frauen erfahren sexuelle Gewalt, ganz egal wie kurz ihre Röcke sind. Menschen erfahren Gewalt, auch wenn sie sich nicht einmal als Frau fühlen, aber in der Gesellschaft trotzdem als solche wahrgenommen werden. Wäre das Video nicht sogar stärker, würden wir genau so eine Person sehen?

Es geht um’s Nachfühlen

Eléonore Pourriat meinte, das Video sei aus einer Situation mit ihrem Freund entstanden, der ihr nicht glauben wollte, wie ein normaler Tag für Frauen auf der Straße aussehen kann. Damit ihr Freund das nachfühlen könne, hat sie also die Rollen vertauscht und in ihrem Kurzfilm einen Mann von einer Girl-Gang, einer Obdachlosen an der Ecke und einer Joggerin aus dem Haus blöd anmachen lassen. Allen Männern, die tatsächlich dachten, so etwas gäbe es kaum: Frauen werden ständig blöd angemacht. Das zeigt der Film. Das hätte der Film auch zeigen können, indem Pierre eine Frau und alle anderen Männer geblieben wären.

Das Vertauschen der Geschlechter soll also gerade Männer besonders ansprechen. Und sie fühlen sich angesprochen und sagen: Oh, das ist ja wirklich schlimm! Aber betrifft es diese Männer in ihrem Alltag? Männer, die sich dieses Video anschauen, sind Guardian-, Zeit Online- oder taz-Leser. Das aufgeklärte Bürgertum also, dessen Sexismus sich nicht durch Pöbeleien auf der Straße zeigt, sondern durch anzügliche Handbewegungen am Rande, die ja nur nett gemeint sind, durch Lohnungleichheit, durch Bevorzugung attraktiver Frauen bei der Mitarbeiterinnensuche, um genau diese dann im Arbeitsalltag nicht ernst zu nehmen, eben weil sie so attraktiv sind und damit nicht sonderlich schlau sein können.

Interessante Frauen – schöne Frauen?

Im letzten Jahr gab es ein Video, das einen ähnlichen Fokus wie „Opressed Majority“ hatte: Dustin Hoffman erzählt darin, wie er in „Tootsie“ eine Frau spielte und der Meinung war, er müsse natürlich eine schöne Frau sein – denn im Film habe er eine interessante Persönlichkeit, die sich in seiner äußeren Schönheit widerspiegeln müsse. Und als er diese Geschichte seiner Frau erzählt und sie ihn darauf hinweist, was für ein Quatsch das ist, beginnt er zu verstehen, wie viele interessante Frauen er in seinem Leben nicht kennen gelernt hat, nur weil er dachte, sie würden nicht interessant genug aussehen. Dieser Kommentar von Hoffman schafft zweierlei: Er deckt den strukturellen Sexismus auf, der potentiell alle Männer betrifft – nicht nur die auf der Straße – und er berührt, weil da wirklich jemand ist, der diese Erfahrung durchlebt hat.

[vsw id=“xPAat-T1uhE“ source=“youtube“ width=“425″ height=“344″ autoplay=“no“]

Diese kleine Erfahrung ist stark und sie braucht auch keinen theoretischen Überbau, weil auch so alle verstehen, worum es hier geht. Anders der Film „Opressed Majority“. Wenn die fiktive Figur Pierre am Ende des Tages, nachdem er auf der Straße von halbstarken Mädchen misshandelt, von einer Polizistin dafür herablassend angeglotzt und von seiner Frau mit einem „Was läufst du denn auch so rum“ abgekanzelt worden ist, wenn Pierre dann also verzweifelt ruft, dass er diese „feministische Gesellschaft“ nicht mehr ertragen könne, bin ich endgültig irritiert.

Eine feministische Gesellschaft ist also eine, in der Männer unterdrückt werden? Dieser Satz bedient sich am Klischee der Maskulinsten, die meinen, Feminismus sei einfach eine Umkehrung der Geschlechterrollen. Feminismus verlangt einen gleichen Zugang zu Macht für Frauen wie für Männer. Feminismus ist nicht die Umkehrung von Patriarchat, sondern die Forderung nach seinem Ende.

Pierre lebt in „Opressed Majority“ nicht in einer geschlechtergerechten Welt, sondern in einer Welt, wie sie jetzt ist. Und weil ich diese bestens kenne und täglich erlebe, berührt mich Pierres Geschichte nicht. Ich möchte mehr Geschichten à la Dustin Hoffman. Geschichten von Männern, die nicht auf die Straße schauen und entsetzt sind, wie sich der Pöbel ihren Frauen gegenüber verhält – sondern den Fehler im System in ihrem eigenen Verhalten erkannt haben. Das würde mich sehr berühren.