Von Barbara Offenberger, Farah Grütter, Franc Fritschi und Jenny Warnecke

Die Revolution von 1848 ist die Geburtsstunde der Eidgenossenschaft Schweiz. Artikel 4 der Bundesverfassung besagt: „Alle Schweizer sind vor dem Geseze gleich.“ Wenig später heißt es in Artikel 18: „Alle Schweizer sind wehrpflichtig“. Wer eine Waffe trägt, hat eine Stimme. Die Frauen bleiben politisch gesehen Untertanen der Männer, frei nach dem Motto „Jede Frau wird ja durch ihren Mann repräsentiert“. Die Heteronormativität ist damit in Stein gemeißelt.

Otto Baumberger, Plakat Frauenstimmrecht Nein, 1920 © 2015, ProLitteris, Zürich, Plakat im Rahmen einer Kampagne des Vereins "1966-2016: 50 Jahre Frauenstimmrecht im Kanton Basel-Stadt"
Otto Baumberger, Plakat Frauenstimmrecht Nein, 1920 © 2015, ProLitteris, Zürich, Plakat im Rahmen einer Kampagne des Vereins „1966-2016: 50 Jahre Frauenstimmrecht im Kanton Basel-Stadt“

13. März 2016: Im kult.kino in Basel findet eine Vorführung des Films „Suffragette – Taten statt Worte“ statt mit anschließender Diskussion anlässlich des Jubiläums „50 Jahre Frauenstimmrecht in Basel-Stadt“ statt. In Abgrenzung zu den gewaltsamen Ausschreitungen der Suffragettenbewegung in England wird der lange Kampf der Schweizer Frauen als die „wirksamste, unblutige Revolution im 20. Jahrhundert in Europa“ bezeichnet und als Ergebnis der zahlreichen Stimmrechtspetitionen präsentiert. Der aktuelle Diskurs zum Frauenstimmrecht ist in bürgerlicher Hand. Der lange Weg von der ersten Petition im Jahre 1868 der Genferin Marie Goegg-Pouchoulin bis zur Durchsetzung 1971 wird als der mühevolle Kampf der rechtschaffenen Frauen inszeniert. Dass es durchaus radikalere Aktivistinnen gab, Frauen, die schmerzhafte Wahrheiten über die sexistischen Geschlechterverhältnisse in der Schweiz aussprachen, wird in der historischen Darstellung bürgerlicher Vereine verschwiegen.

Der Schweizer Verband für Frauenstimmrecht (SVF) hatte 1929 eine neue Petition für das Frauenstimmrecht eingereicht mit einer Rekordzahl von 249.237 Unterschriften, davon 78.840 Unterschriften von Männern. Nach der Einführung des Frauenstimmrechts in Frankreich und Italien nach 1945 wurden die erneut gesammelten 50.000 Unterschriften für das Frauenstimmrecht von in Zweierreihen marschierenden Trachtenfrauen überreicht – eine Anbiederungstaktik, die sich nicht ausgezahlt hat.

Die Kriegs- und Nachkriegsperiode war für die Schweiz wirtschaftlich eine Boomzeit. Der Hunger des Marktes nach neuen Arbeitskräften konnte nur durch die Frauen gestillt werden. Im Kalten Krieg wähnte sich die Schweiz in der Situation „geistiger Landesverteidigung“, der vermeintliche Zwang zur Einheit gegen den Ostfeind, drängte die Frauen aber weiterhin in ihre ihnen zugewiesene Rolle. In der Konsequenz erschien es den bürgerlichen Stimmrechts-Aktivistinnen unvermeidlich zu beteuern, dass sie durch ihre politische Verantwortung nichts an „Weiblichkeit“ einbüßten. Immerhin mussten die Männer über das Stimmrecht der Frauen abstimmen!

Im Jahr 1958 präsentierte Iris von Roten auf der Zweiten Schweizer Ausstellung für Frauenarbeit ihr satirisches Buch „Frauen im Laufgitter“. Sie wurde damit über Nacht zur „meistgehassten Frau der Schweiz“ und wurde sogar für das negative Abstimmungsergebnis von 1959 verantwortlich gemacht.

10. November 1968: Das 75. Jubiläum des Frauenstimmrechtvereins Zürich wird von der FSZ (Fortschrittlichen Studentenschaft Zürich) gesprengt. Andrée Valentin ruft dazu auf, radikal gegen die Unterdrückung von Frauen zu kämpfen: „Eine wahre Emanzipation ist nur möglich, falls sich die gesellschaftlichen Bedingungen grundsätzlich ändern. Gesellschaftspolitische Entscheide werden nicht im Parlament gefällt, es braucht den Druck von der Straße. Die Stimmrechtsbewegung verfolgt eine konsensorientierte Politik und sie ist nicht bereit, die herrschende Geschlechterordnung zu hinterfragen.“ Die Medien titeln diffamierend: „Da werden Weiber zu Hyänen“. Aus diesem Auftakt formiert sich die Frauenbefreiungsbewegung (FBB), die seitdem Störaktionen mit politischen Statements durchführt.

1971: Das Frauenstimmrecht wird von den Wahlbürgern bundesweit mit einer 2/3 Mehrheit angenommen, als vorletztes europäisches Land (Liechtenstein 1984); noch nach den Ländern Türkei, Afghanistan und Haiti. Bis zur Durchsetzung des Frauenstimmrechts im letzten Schweizer Halb-Kanton Appenzell Innerrhoden dauert es allerdings weitere 19 Jahre – das Bundesgericht musste es im Jahr 1990 gegen den Willen der Landsgemeinde durchsetzen.

Neben dem beharrlichen Rackern bürgerlicher Frauen mit Petitionen und Unterschriftensammlungen waren es die lauten Forderungen radikaler Aktivistinnen des FBB mit ihren offensiven Aktionsformen und entsprechendem Presseecho, die als Motor für das ausschlaggebende „Ja“ dienen.

Die Schweizer Wirtschaft und Politik fürchten wegen der konservativen Haltung zum Frauenstimmrecht einen Imageschaden, denn ein weiterer außenpolitischer Makel wird sichtbar: Die Unterzeichnung der Menschenrechtskonvention kann nur unter dem Vorbehalt des fehlenden Frauenstimmrechts unterzeichnet werden.

Die pathetische Inszenierung der „stillen Frauen“ seitens der bürgerlichen Diskursanführer*innen ist mehr als fragwürdig. Es gab sie, die radaumachenden Frauen, die für ihre Überzeugungen in direkte Auseinandersetzungen gegangen sind. Ein Platz in der Geschichtsschreibung steht ihnen zu!