Von János Erkens

Mit der Natürlichkeit ist das so eine Sache. Als Kind war ich ungeheuer neidisch auf die anderen Mädchen und Jungen, die sich in dem Geschlecht wohlfühlten, das ihnen bei der Geburt zugewiesen worden war. In meiner Vorstellung waren sie völlig natürlich und mussten sich – anders als ich – nicht dazu zwingen, sich „mädchen-“ oder „jungenhaft“ zu verhalten.

©Flickr/Columbia GSAPP/CC BY 2.0
©Flickr/Columbia GSAPP/CC BY 2.0

Der Queer Theory sei Dank, weiß ich mittlerweile, dass Zweigeschlechtlichkeit nun wirklich nichts mit Natürlichkeit zu tun hat, sondern für alle eine recht zwanghafte Angelegenheit ist: Ob Haarpflege und die richtige Epilation im Schambereich, das Schlankheitsgebot, die Angst, ein Flittchen zu sein – oder der Druck, immer und jederzeit trinkfest und potent zu sein, zum Fußball zu gehen und seine Frau irgendwann für eine Jüngere zu verlassen. Weiblichkeit und Männlichkeit bestehen aus unzähligen Zwängen, wie der spanische Queer-Theoretiker und -Aktivist Paul B. Preciado in seinem Buch „Testo Junkie“ aufzählt, das nun in deutscher Übersetzung erschienen ist.

Schon Anfang der Nullerjahre hatte Preciado zum kollektiven Angriff auf das System der Zweigeschlechtlichkeit aufgerufen. Bei seinen Drag-King-Workshops in Paris konnten die Teilnehmer*innen am eigenen Leib erfahren, dass Geschlecht ein Konstrukt ohne biologisches Fundament ist. Ein breitbeiniger Gang, lautes Sprechen in der Öffentlichkeit, sich lässig an eine Wand lehnen etc. pp. sind schließlich auch dann problemlos möglich, wenn mensch nicht über einen cis-männlichen Körper verfügt. Oder anders: Ein „männlicher“ Körper entsteht erst dadurch, dass die genannten Verhaltensweisen zwanghaft wiederholt werden.

Für „Testo Junkie“, das schon 2008 auf Spanisch erschien, ging Preciado in puncto Dekonstruktion noch einen Schritt weiter. Weil vergeschlechtlichte Körper auch oder vor allem durch Medikamente wie Omeprazol, Valium, Viagra und die Anti-Baby-Pille produziert werden, unternahm der radikale Theoretiker und konsequent queere Aktivist einen Selbstversuch: Er rieb sich auf eigene Faust neun Monate lang mit einem testosteronhaltigen Gel ein – nicht etwa, um ein Mann zu werden, sondern um seinem Transgender-Körper eine „molekulare Prothese“ hinzu zu fügen, wie er schreibt.

Das mag fahrlässig und halsbrecherisch klingen, kann aber aus queerer Perspektive durchaus einleuchten. Ein Transmann, der sich eine tiefere Stimme wünscht und deshalb Testosteron nimmt, ist aus dieser Perspektive nämlich in etwa vergleichbar mit einer Cis-Frau, die sich eine reinere Haut wünscht und deshalb die Pille nimmt. Der Unterschied besteht dann lediglich darin, dass ein*e Mediziner*in, die oder der Zweigeschlechtlichkeit als natürlich erachtet, der Cis-Frau zwar ohne mit der Wimper zu zucken die Pille verschreiben, dem Transmann aber kein Rezept für Testosteron ausstellen, sondern ihn erstmal zum Psychiater überweisen würde.

preciadoPaul B. Preciado: „Testo Junkie. Sex, Drogen und Biopolitik in der Ära der Pharmapornographie“
b_books 2016, 460 S., 20 Euro.

Selbstverständlich ist dieses von Preciado betriebene „Gender-Hacking“ mit Hilfe von Hormonen nicht uneingeschränkt empfehlenswert. Vielleicht reicht es für den Anfang, nicht mehr von der Natürlichkeit der eigenen Geschlechtsidentität auszugehen und gelegentlich mal auf geschlechtsspezifische Zwänge zu pfeifen. Damit wäre nämlich allen geholfen. „Lange habe ich geglaubt, dass nur Leute wie ich wirklich in der Scheiße stecken“, schreibt Preciado über seine Kindheit als Tomboy im Spanien der 1970er Jahre. „Heute weiß ich, dass die Scheiße uns alle betrifft.“