Von Anna Mayrhauser

Ich sehe den Film „24 Wochen“ zweimal. Zum ersten Mal in einer Pressevorführung auf der Berlinale im Februar 2016. Dort läuft der Film der 34-jährigen Regisseurin Anne Zohra Berrached als einziger Beitrag aus dem deutschsprachigen Raum im Wettbewerb. Ich fange etwa bei Minute zehn an zu weinen – das Paar Astrid und Markus sitzt das erste Mal gemeinsam bei der Frauenärztin – und höre, bis der Abspann beginnt, nicht mehr damit auf.

24 WEEKS
Astrid (Julia Jentsch) trauert. © Neue Visionen Filmverleih

Ich merke, dass ich nicht die Einzige bin. Noch nie zuvor habe ich erlebt, dass so viele Menschen, die beruflich mit Film zu tun haben, zeitgleich die Fassung verlieren. Normalerweise steht etwas zwischen Kritiker*in und Film – ironische Distanz, ästhetische Kritik, der professionelle Wunsch, sich nicht einlullen zu lassen. Später, auf der Toilette des Kinos, wasche ich mir das Gesicht. Um mich herum Personen mit geröteten Augen. Eine Frau um die fünfzig lächelt mich aufmunternd an. Ich frage mich, wie viele Personen in diesem Raum wohl ähnliche Erfahrungen gemacht haben – mit Schwangerschaftsabbrüchen, Spätabtreibungen, der Entscheidung für oder gegen ein Kind mit Behinderung, Fehl- und stillen Geburten.

Zum zweiten Mal sehe ich „24 Wochen“ in Vorbereitung auf diesen Artikel. Ich bin fest entschlossen, etwas zu finden, das mich stört – zu emotionale Musik, eine manipulative Bildsprache, zu deutsche Fernsehästhetik. Aber es gelingt mir nicht.

Anne Zohra Berrached ist selbst ein bisschen überrascht von den heftigen Emotionen, die ihr seit der Präsentation des Films auf der Berlinale immer wieder begegnen. „Nach dem Film geben viele zu, dass sie in irgendeiner Form einen Berührungspunkt mit dem Thema haben“, sagt sie. Sie ist froh und stolz, dass ihr Film so viele Menschen berührt. Pränataldiagonistik sei gerade ein großes Thema, meint sie, für viel Geld würden sich werdende Eltern in vermeintlicher Sicherheit wiegen. „Aber in Wirklichkeit gibt es keine Sicherheit. Das ist ein unglaublich ungemütliches Thema. Wer redet schon gerne beim Kaffee darüber, ein Kind in der 24. Woche abgetrieben zu haben?“

„24 Wochen“ erzählt die Geschichte von Astrid und Markus, dargestellt von Julia Jentsch, die immer wieder Charakterrollen wie Sophie Scholl spielte und mit der 2000er Revolutionskomödie „Die fetten Jahre sind vorbei“ ihren Durchbruch feierte, und Bjarne Mädel, der vor allem durch Serien wie „Der Tatortreiniger“ und „Stromberg“ bekannt wurde. Astrid ist eine erfolgreiche Comedian, sie tritt in der ARD-Show „Lady-Nights“ auf und reißt dort Witze wie „Mir egal, was es wird, Hauptsache Mädchen!“ Markus ist ihr Manager. Sie leben mit ihrer neunjährigen Tochter in einem Neubau am Stadtrand von Berlin, in einem dieser klotzartigen, weißen Häuser mit bodentiefen Fenstern.

Als sie erfahren, dass ihr zweites Kind das Down-Syndrom hat und auch, dass sie in dieser Situation die Schwangerschaft bis zur Geburt abbrechen können, entscheiden sie sich zögerlich für das Kind. Dann stellt sich heraus, dass ihr Kind einen schweren Herzfehler hat und unmittelbar nach der Geburt operiert werden muss. Astrid beginnt zu zweifeln. In der titelgebenden 24. Schwangerschaftswoche, also etwa um die Zeit herum, in der Föten beginnen, auch außerhalb der Gebärmutter eine Überlebenschance zu haben, entscheidet sie sich für einen Abbruch.

Berrached hat selbst eine Schwangerschaft abgebrochen, allerdings vor der zwölften Woche. Seitdem habe sie etwas darüber machen wollen, erzählt sie, allerdings habe ihr ein Abbruch vor der zwölften Woche nicht genug Stoff gegeben. „Neunzig Prozent der Frauen in dieser Situation entscheiden sich genauso wie Astrid“, erklärt sie. Ein Abbruch zu diesem Zeitpunkt bedeutet, dass der Fötus zunächst mittels einer Injektion in den Mutterleib getötet werden muss, bevor schließlich die Geburt eingeleitet wird.

Diesen Prozess zeigt Berrached sehr genau. Die Kamera blendet nie diskret weg, die Zuseher*innen bleiben die ganze Zeit über bei Astrid und Markus – bis das Kind da ist. Die Szene ist beeindruckend realistisch, trifft die Zuseher*innen mit geradezu körperlicher Wucht. Alle Ärzt*innen und Hebammen sowie das Pflegepersonal, das im Film auftritt, werden von Laiendarsteller*innen verkörpert, die auch im echten Leben diese Berufe  ausüben. So wirkt der Spielfilm in manchen Szenen dokumentarisch, wie schon Berracheds Erstlingsfilm „Zwei Mütter“, in dem sie vom Kinderwunsch eines lesbischen Pärchens erzählte.

Der Arzt, der in der Szene zu sehen ist, die den Abbruch zeigt, führt auch im wirklichen Leben Spätabbrüche durch. Seine Identität wollte er zuerst nicht öffentlich machen, deshalb ist sein Gesicht im Film nicht zu sehen. Berrached zeigte ihm – ausnahmsweise – vorab den Rohschnitt. „Nachdem er ihn sich gemeinsam mit seiner Frau angesehen hat, hat er mich angerufen. Er hat immer noch geweint, während wir telefoniert haben. Er meinte, es wäre genau so, wie es in seiner Praxis vorkommen würde. Jetzt wäre er bereit, auch seinen Namen zu nennen und sein Gesicht zu zeigen.“

Berrached recherchierte viel, trieb sich in Schwangerschaftsforen herum, fand betroffene Frauen, mit denen sie hin- und herschrieb, doch spätestens wenn sie ein Telefonat vorschlug, war Schluss. Das Pärchen, mit dem sie sprach, fand sie schließlich über gemeinsame Freund*innen. Dass die Dialoge so realistisch sind, ist unter anderem ihnen zu verdanken. Sie haben gut auf den Film reagiert. Wie übrigens auch die meisten Eltern, die sich für ihr Kind mit Down-Syndrom entschieden, mit denen die Regisseurin sprach. Die meisten seien froh, dass der Film einen Raum öffne, über das Thema zu sprechen. Nur einmal habe sich nach einer Kinovorführung eine Frau gemeldet und gesagt, dass der Film eine Werbung für Spätabtreibung sei.

„Neunzig Prozent der Kritiken sind gut, zehn Prozent vernichtend. Es gibt nur Entweder-oder“, meint Berrached. Anfangs sei es schwer gewesen, die Rolle der Astrid zu besetzen. Viele Schauspielerinnen hätten zwar die Rolle interessant und das Drehbuch gut gefunden, aber letztlich abgelehnt. Weil sie Angst hatten, mit einer Rolle identifiziert zu werden, für die viele Menschen wenig Empathie aufbringen können. Weil sie selbst ähnliche Erfahrungen gemacht haben und sich schauspielerisch nicht so stark darauf einlassen wollten.

Allerdings, meint Berrached, liege das nicht nur am Tabuthema, sondern auch daran, dass sie sehr ehrlich mit dem Regiekonzept gewesen sei und klar war, dass es sehr echt sein sollte und „brutal“ werden könnte. Dafür entschieden hat sich dann Julia Jentsch: „Als ich das Drehbuch las, habe ich mir gewünscht, dass sich Astrid am Ende anders entscheidet. Ich musste erst akzeptieren, dass es genau so erzählt werden muss, weil es der Weg ist, den die meisten Frauen wählen“, sagt sie. Außerdem erzählt sie im Interview, sie sei beeindruckt gewesen, wie viele Menschen aus ihrem Bekanntenkreis begonnen hatten, mit ihr offen über das Thema zu sprechen. Bedenken, durch diese Rolle vereinnahmt zu werden, hatte sie nicht.

Es gibt nur wenige Filme, in denen ein Schwangerschaftsabbruch, sei es vor der zwölften Woche oder später, überhaupt vorkommt. „Es gibt schlicht keine Filme darüber“, sagt Berrached. Es gibt Filme, in denen die Frau vor der Entscheidung steht, sich für das Baby entscheidet und dann alle glücklich sind. Happy End.“  Filme, die Abtreibung nicht moralisch verhandeln, sind nach wie vor eine Ausnahme, wie auch der Sammelband „Ich hatte die Zeit meines Lebens“ zum Kinohit „Dirty Dancing“ (herausgegeben von Hannah Pilarczyk) hervorhebt und das emanzipatorische Potenzial dieses 80er-Kultfilms betont – denn darin entscheidet sich eine Figur für eine Abtreibung. Die Abtreibung passiert in der Zeit, die am Bildschirm zu sehen ist, und der Schwangerschaftsabbruch wird in keiner Art und Weise angezweifelt.

24-wochen_plakat_625„24 Wochen“ DE 2016.
Regie: Anne Zohra Berrached.
Mit: Julia Jentsch, Bjarne Mädel, Johanna Gastdorf u.a.
103 Min. Start: 22.09.

„24 Wochen“ gelingt das große Kunststück, zu erzählen, wie die Natur uns manchmal auf das Existenziellste zurückwirft, ohne reaktionär zu sein. In der „FAZ“ wurde die große Nähe, die Berrached herstellt, kritisiert, die emotionale Musik, die HD-Aufnahmen von Babys in der Gebärmutter. Diese Kritik ist berechtigt – und trotzdem brauchen wir mehr Filme wie „24 Wochen“. Weil dieser Film Raum schafft, über Themen zu sprechen, die noch immer viel zu oft im Privaten verhandelt werden, über Schwangerschaftsabbruch, Behinderung, Spätabtreibung, Fehl- und stille Geburten. Weil seine Aussage, die eigentlich ganz normal ist, noch immer als viel zu radikal wahrgenommen wird. Weil er sagt – du darfst dich entscheiden, wie du willst. Und du darfst trotzdem traurig sein. Und darüber
sprechen.

– Dieser Text erschien zuerst in Missy 3/2016