Von Senzo

Als ich 14 war, fuhr ich mit meiner besten Freund*in im Sommer oft mit dem Rad in einen waldartigen Park. Wir hatten dort einen geheimen Platz. Unseren geheimen Platz. Umgeben von grünem Dickicht, das uns gegen neugierige Blicke abschirmte, saßen wir auf einem Betonklotz und „übten“ knutschen. Für mich war das sehr wichtig, es war unser Ritual und ich wollte immer weiter „üben“. Es ist überflüssig zu erwähnen, dass wir natürlich küssen übten, damit ich mich bei meinem ersten richtigen Kuss mit einem Jungen nicht blamierte. Über mehr sprachen wir nicht, denn für mehr gab es damals keinen Platz und auch nicht die richtigen Worte. Wir waren beste Freund*innen, keine Lesben. Der Begriff „Coming-out“ schwebte über mir wie ein Schwert am seidenen Faden und ich entschloss mich dazu, es erst mal einfach zu ignorieren …

Der Schrank ist eine Metapher für ungeoutete Queers geworden. Manche springen euphorisch aus ihm raus, andere suchen sich in ihm einen sicheren Ort – und werden manchmal unfreiwillig herausgezerrt. © Shutterstock/Belozerova Daria
Der Schrank ist eine Metapher für ungeoutete Queers geworden. Manche springen euphorisch aus ihm raus, andere suchen sich in ihm einen sicheren Ort – und werden manchmal unfreiwillig herausgezerrt. © Shutterstock/Belozerova Daria

„Coming-out“ bezeichnet umgangssprachlich den Prozess, in dem eine Person feststellt, in Bezug auf Merkmale wie Begehren, Geschlechtsidentität, Körper etc. nicht der normativen Mehrheitsgesellschaft anzugehören, und beschließt, dies im Idealfall mit dem gesamten sozialen und familiären Umfeld zu teilen. Der Gedanke dahinter ist kein schlechter, soll doch durch ein Sichtbarwerden mit marginalisierten Identitätsmerkmalen dem Shaming, der Ablehnung, dem Hass, dem Nicht-Benanntwerden entschlossen und selbstbewusst entgegengetreten werden.

Eines der Probleme, die das Coming-out-Konzept mit sich bringt, ist, dass es die Norm nicht dekonstruiert, sondern affirmiert. Die Konsequenzen eines Coming-outs sind heute anders als vor 20 Jahren. Es ist mehr Platz in der normativen Mitte der Gesellschaft geworden, der natürlich hart erkämpft und erstritten wurde, der aber auch einigen Teilen der LSBT*IQ-Community die Möglichkeit bietet, sich ins gemachte Nest zu setzen. Die Tatsache, heute zum Beispiel schwul oder lesbisch zu sein und damit nach außen zu gehen, ist nicht mehr automatisch ein politisches Statement.

Der gesellschaftliche Rahmen hat sich verändert, und ‚come out‘ ist keine radikale Forderung mehr, obwohl sie leider immer noch einiges an Mut erfordert.

Ich wollte mich nicht outen. Alle, die ich kenne, versammeln und „I U She“ von Peaches zu performen war eine Idee, die ich damals witzig fand, aber ich sah dafür keine Notwendigkeit. Im Gegenteil, ich hatte andere Probleme. Ich war bereits sichtbar. Ich war ein Schwarzer Teenager. Mitte der 90er. In Ostdeutschland. Dadurch hatte ich bereits eine fette Zielscheibe auf dem Rücken und ich war mit dieser mehr als beschäftigt. I wasn’t in need for another one.

Die Art und Weise, wie Coming-out in westlichen LSBT*IQ-Kontexten thematisiert wird, erzeugt teilweise den Eindruck, dass nur wer out ist, auch proud ist. In nicht-westlichen Kontexten gibt es eine jahrhundertelange Geschichte von gleichgeschlechtlichem Begehren, nicht-binären Identitätskonzepten etc., die nach den jeweiligen kulturellen Standards anders benannt und verhandelt werden.

Ob ich also okay mit meinen nicht-normativen Identitätsanteilen bin, hängt nicht zwingend davon ab, wie viele Namen ich auf meiner Liste abhaken kann. Manchmal ist die Entscheidung, sich zum Beispiel vor der Familie nicht zu outen, strategisch, manchmal aber auch ganz bewusst gewählt. Was, wenn dir deine Familie neben all ihren Macken und augenrollverursachendem Verhalten etwas bieten kann, was du brauchst, um klarzukommen?

Senzo ist ein Pflanzennerd und knutscht immer noch gern mit allen.

In weißdominierten Räumen zum Beispiel Schutz beziehungsweise Sensibilität in Bezug auf Rassismus, in Räumen, die nur auf ableisierte Menschen ausgerichtet sind, Zugänge und ein „Mitgedachtwerden“ … diese Liste lässt sich endlos fortsetzen. Menschen, die Mehrfachdiskriminierung erfahren, haben oft schon ein unfreiwilliges Coming-out hinter sich und sind sichtbar mit ihren nicht-normativen Identitätsanteilen. Das führt dazu, dass die Entscheidung, sich nicht zu outen, in manchen Fällen die selbstbewusstere und selbstfürsorglichere ist.

An alle, die ihr Coming-out erfolgreich hinter sich gebracht haben: Happy Coming-out Day! You made it!

An alle, die sich aus bereits genannten Gründen ganz oder teilweise dagegen entschieden haben: Herzlichen Glückwunsch zu der Entscheidung, die für euch die richtige ist! Come as you are.