Von Nadine Schildhauer

ELECTR°CUTE dreht an den Reglern ihres analogen Equipments, im Hintergrund flackern ihre schwarz-weißen Visuals: Die Veränderung der Töne ist in den Bewegungen der Visuals zu sehen. Der Track steigert sich langsam, der Bass dröhnt, ELECTR°CUTE bewegt sich zum Sound, frickelt, lässt Störgeräusche einfließen. Die Betrachter*in kann mitfühlen und sich auf den nächsten Beat freuen. Der YouTube-Channel der Berliner Partyreihe „Raw Chicks“ fängt genau diese Clubmomente ein.

Die Filmemacherin Beate Kunath, Mitbegründerin von „Raw Chicks“, porträtiert in ihrem Dokumentarfilm „RAW CHICKS.BERLIN“ anhand von elf Künstlerinnen das breite Spektrum elektronischer Musik in Berlin. Die überwiegend experimentelle Musik bedient die Nuancen von Elektroakustik und Noise bis hin zu Techno. Im Vordergrund stehen die Musik und die Herangehensweise der Künstlerinnen an ihre Produktionen. Beate Kunath setzt sich in ihren Kurzspiel- und Dokumentarfilmen mit den Lebens- und Erfahrungswelten von Frauen auseinander, und so kann „RAW CHICKS.BERLIN“ als Statement gelesen werden.

ELECTR°CUTE an den Reglern © Beate Kunath/RAW CHICKS
ELECTR°CUTE an den Reglern © Beate Kunath/RAW CHICKS

Bei den Dreharbeiten hat Kunath viel Unterstützung erhalten, den Dreh und Schnitt aber größtenteils selbst finanziert. Für die Schlussproduktion startete sie eine Crowdfundingkampagne, um den Film festivaltauglich zu machen. Auch ihr könnt den Film noch bis zum 31. Januar unterstützen: Zur Kampagne geht es hier entlang.

Im Trailer zum Film erzählen Sie, dass Sie 2012 im RAW Tempel die Partyreihe „Raw Chicks gestartet haben. Wie sind Sie als Filmemacherin dazu gekommen, im Club zu arbeiten?
Beate Kunath: Ich habe zu dem Zeitpunkt den Dokumentarfilm „Dieser eine gemeinsame Tag“ (2003) fertiggestellt, an dem ich fünf Jahre gearbeitet hatte. Ich war für den Film in acht Partnerstädten der Stadt Chemnitz unterwegs und habe nach Frauen gesucht, die am selben Tag wie ich Geburtstag haben und im selben Jahr geboren wurden. Ich bin nach China, Amerika, Finnland, Slowenien und Russland gereist und habe die Frauen ein paar Tage in ihrem Leben begleitet. Da das Projekt völlig unterfinanziert war, habe ich nach einem Job gesucht. Als ich Eléonore Roedel kennengelernt habe, sagte sie mir, dass sie jemanden im Club suchen. Sie ist auch Mitbegründerin der „Raw Chicks“-Reihe.

Warum haben Sie „Raw Chicks“ ins Leben gerufen?
Wir hatten das Gefühl, hier fehlt irgendetwas. Wir fragten damals den Clubbetreiber, warum es so wenige Frauen im Line-up gibt. Er meinte, er kenne nicht viele weibliche DJs und wir könnten unsere eigene Veranstaltungsreihe aufziehen. Er unterstützte uns dabei. Angefangen haben Eléonore und ich mit unserer Veranstaltungsreihe „Raw Chicks“ im RAW Tempel Club.

KYOKA © Beate Kunath/RAW CHICKS
KYOKA © Beate Kunath/RAW CHICKS

Wie hat sich die „Raw Chicks“-Reihe seit 2012 bis heute entwickelt?
Die ersten DJs wie EM PATHIE oder SPUNKY SUE kamen aus dem direkten Umfeld vom RAW Tempel Club, die brachten wiederum befreundete weibliche DJs mit, später durchforsteten wir SoundCloud, YouTube, die female:pressure-Datenbank und andere Berliner Veranstaltungsorte. Am Anfang lag unser Fokus auf weiblichen DJs, später haben wir weibliche VJs und Live-Acts dazugeholt. Kyoka vom Chemnitzer Label Raster-Noton war unser erster Live-Act. Mittlerweile haben wir vier Veranstaltungen im Jahr, zwei davon sind konzertähnlich und die anderen beiden haben einen Partycharakter. Seit 2014 gibt es auch Männer in unserem Line-up. Es geht uns um die Sichtbarkeit von Frauen, aber andererseits muss ebenso eine Vernetzung von Männern und Frauen stattfinden.

Wie entstand die Idee zum Film?
Über die Jahre haben mich besonders Frauen fasziniert, die hoch konzentriert mit ihrem technischen Equipment eigene Songs auf der Bühne präsentiert haben. Die unterschiedlichen Facetten dieser Musikproduzentinnen als auch die enorme Bandbreite von elektronischer Musik, die wir durch die Suche nach Acts für unsere Veranstaltungsreihe entdeckt haben, waren wichtige und erste Impulse, diesen Film zu machen. Das musikalische Spektrum reichte dabei von experimenteller über noise-basierter elektronischer bis hin zu elektro-akustischer Musik. Diese Bandbreite von Frauen mit ihrer eigenen Musik in einem Dokumentarfilm repräsentiert zu sehen, fand ich als Filmemacherin super spannend.

Welche Erkenntnisse haben Sie für sich aus Ihrer Arbeit am Film gezogen?
Ich konnte danach tatsächlich besser nachvollziehen, wie die Künstlerinnen Sounds erzeugen. So fangen viele mit Field Recordings an, suchen Stimmen und Stimmungen heraus, filtern und formen diese, um sie dann für ihre Musik zu verwenden. Mich hat das sehr an meine eigene Arbeit erinnert.

Musikerinnen im Porträt:
ANNA BOLENA (Italien | Berlin)
ELECTR°CUTE / SINGING KITCHEN (Polen | Berlin)
ERCKLENTZ NEUMANN (Deutschland | Berlin)
KRITZKOM (Frankreich | Berlin)
KSEN. / TOMISLAV (Kroatien | Berlin)
KYOKA (Japan | Berlin)
HITHERTOO (Tschechien | Berlin)
MIMICOF / MIDORI HIRANO (Japan | Berlin)
RONA GEFFEN (Israel | Berlin)
SILNAYE (Spanien | Berlin)
ZIÚR (Deutschland | Berlin)

Inwiefern?
Bei den Visuals, die ich für „Raw Chicks“ gestalte, gehe ich ähnlich vor. Ich habe eine Filmsequenz, die ich so lange modelliere, bis sie eine Form annimmt, die meine Ästhetik widerspiegelt. Ich fand es spannend zu sehen, dass sich unsere Vorgehensweise nicht groß unterscheidet und dass Künstlerinnen eine eigene Soundästhetik haben, die sie versuchen herauszuarbeiten.

Nach welchen Kriterien haben Sie die Künstlerinnen ausgesucht?
Alle elf haben bei unserer Veranstaltungsreihe „Raw Chicks“ gespielt. Der eigene Sound ist mir wichtig gewesen, ob dieser nun kraftvoll ist, verknistert oder rhythmisch. Die visuelle Umsetzung von Sounds und das Experimentieren sowie Improvisieren hat mich bei allen Künstlerinnen überzeugt und auch emotional berührt. Die Internationalität dieser Stadt ist auch Teil des Films und so habe ich Protagonistinnen ausgewählt, die aus unterschiedlichen Ländern kommen, denn ich wollte herausfinden, warum so viele Kreative nach Berlin kommen und ob und wie die Stadt ihre Musik beeinflusst.

Eine Protagonistin sagt in dem Film: „Ich hatte nicht diese feministische Attitüde …“ – Wie viel hat Ihr Film mit Feminismus zu tun?
Ich glaube, ich habe allen diese Frage gestellt, ob sie sich als Feministinnen verstehen, aber ich habe nicht alle Antworten reingenommen. Ich wollte das Spektrum an unterschiedlichen Positionen zeigen. Für manche ist das Thema nicht wichtig, weil sie einfach nur Musik machen wollen, für andere wiederum sehr wichtig. Es ist eine Definitionsfrage, was wir unter Feminismus verstehen.

Verstehen Sie Ihren Film als Statement?
Die Suche nach starken Frauen, nach inspirierenden Frauen, das Finden und Sichtbarmachen von „Role Models“ hat mich eigentlich immer bei meiner filmischen Arbeit beschäftigt. Ich lasse mich gern von einem Zitat der in Chemnitz geborenen Schriftstellerin Irmtraud Morgner leiten: „Die Philosophen haben die Welt bisher nur männlich interpretiert. Es kommt aber darauf an, sie auch weiblich zu interpretieren, um sie menschlich verändern zu können.“ In diesem Sinne kann man meinen Film auch als ein Statement sehen.

Wofür verwenden Sie die Gelder aus der Startnext-Kampagne?
Ich brauche entsprechend hochwertige Filmkopien, die gewissen Standards entsprechen, um an größeren Festivals teilnehmen zu können. Auf einem Festival gibt es die Möglichkeit, einen Verleiher zu finden, den ich brauche, um den Film ins Kino zu bringen. Als professionelle Filmemacherin möchte ich den Film natürlich für ein Publikum drehen.

Ich danke Ihnen für das Gespräch.