Endlich können Männer wieder in der Öffentlichkeit weinen, ohne als Weicheier zu gelten. Gianni Occhipinti hat sie für uns fotografiert – Gender Trouble sah schon lange nicht mehr so gut aus!

Die Szene war das erste prägende Bild der Fußball-Europameisterschaft 2008 und so ergreifend, dass man am liebsten mitgeheult hätte: Der Schweizer Mannschaftskapitän und Stürmer Alexander Frei, wie er beim Auftaktspiel gegen Tschechien auf zwei Helfer gestützt vom Feld humpelt und dabei weint. Frei hatte sich kurz vor der ersten Halbzeit das Innenband des linken Knies gerissen, er wusste, dass die EM für ihn vorbei war, ahnte vermutlich schon, dass sie bald auch für seine Mannschaft vorbei sein würde, und er weinte mit der ganzen Trauer und Verzweiflung eines kleinen Jungen, der im Supermarkt seine Mutter verloren hat.

Am Tag danach, dem 8. Juni, war Freis tränenüberströmtes Gesicht in allen Zeitungen und auf allen Kanälen zu sehen. Ein Mann, der öffentlich weint, sorgt immer noch für Schlagzeilen. Sich über Freis Tränen lustig zu machen oder ihn dafür gar als Weichei zu bezeichnen, fiel dagegen niemandem ein. Es schien, als dürften Männer auch jenseits des Kleinkindalters endlich offen Tränen vergießen, ohne sich schämen zu müssen. Gut, lässt sich jetzt einwenden: Sport im Allgemeinen und Fußball im Besonderen war schon immer der Rahmen, in dem das vermeintlich starke Geschlecht auch mal schwach sein und seinen Emotionen freien Lauf lassen durfte. Ein gesellschaftlicher Freiraum, in dem Männer all jene Gefühle zeigen konnten, die sie sonst als »echte Kerle« zu unterdrücken haben: Mitleid, Trauer, Rührung und alles andere, was als Weichheit ausgelegt werden konnte. Schon Andy Möller heulte wie ein Schlosshund, südamerikanische Spieler heulen im Grunde nahezu ununterbrochen und als Jürgen Klopp nach 18 Jahren seinen Trainerposten bei Mainz 05 räumte, machte er auch keinen Hehl aus seiner heftig zitternden Unterlippe. Fußball ist also eine der wenigen historischen Ausnahmen vom gesellschaftlichen Weinverbot für Männer.

Aber in den vergangenen Jahren wird längst nicht mehr nur im Stadion geheult: Der spanische König weinte 2004 offen auf der Trauerfeier für die Opfer der Bombenanschläge in Madrid, Helmut Kohl hatte Tränen in den Augen, als im Ludwigshafener Stadtpark ein Weg nach seiner verstorbenen Ehefrau benannt wurde, und zuletzt heulte sehr eindrucksvoll Stefan Petzner vom rechtspopulistischen BZÖ, nachdem sein Parteichef und mutmaßlicher Lebenspartner Jörg Haider bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Mit tränenerstickter Stimme schluchzte Petzner vor laufenden Kameras: »Er woa mei Lebensmensch!« Im Grunde sind wir damit wieder ganz bei den Anfängen angekommen. In der Bibel durfte Jesus noch weinen, als Lazarus starb. Von da an ging es für weinende Männer aber nur bergab. Im puritanischen England des 16. Jahrhunderts wurde Romeo schon mit »Art thou a man?« angeraunzt, als er angesichts seiner Verbannung von Julias Seite in Tränen ausbrach. 300 Jahre später schrieb der Poet Walt Whitman eindringlich und zärtlich über den Tod eines geliebten Kameraden im amerikanischen Bürgerkrieg – und bemerkte: »But not a tear fell«.

Aber auch außerhalb von Drama und Dichtkunst basierte die Idee von Männlichkeit in der westlichen Gesellschaft vor allem auf der Kontrolle von Emotionen, die als Schwäche ausgelegt werden könnten. Freilich, es gab Ausnahmen. Der britische Historiker Bernard Capp, der die Geschichte weinender Männer bis in die Gegenwart untersucht hat, beschreibt, dass Tränen der Trauer um eine geliebte Person – in Maßen – akzeptiert waren, ebenso aus religiöser Ergriffenheit oder Reue. Also: feuchte Augen ja, schluchzen bitte nicht. Aus Empathie, Selbstmitleid oder gar Liebeskummer zu weinen, galt dagegen grundsätzlich als schwach und »weibisch«. Damit scheint es jetzt endlich vorbei zu sein.

Auch wenn man Frei, Kohl und Petzner die Gründe zur Trauer nicht wünscht – diese Männer heulen zu sehen tut gut. Denn egal, ob Kicker oder Kanzler, ob auf einer Beerdigung, bei Gedenkfeiern oder im Kino: Wer traurig ist, soll es zeigen können, egal welchen Geschlechts. Die Freiheit, weinen zu dürfen, ist ein Privileg, das wir gerne mit den Männern teilen. Auch weil sie, wie alles, was konservative Geschlechterrollen ein Stück weiter aufbricht, ein Gewinn für uns alle ist. In dieser Hinsicht: Heult doch!

(Text: Chris Köver. Erschienen in: Missy 01/09)