taketheselies-rahmen-220x3004Hannah Maynard (Kerry Fox) ist der Appetit schon lange vergangen, nur Schokolade knabbern ist noch drin. Das erklärt sie auch Alen (Kresimir Mikic), der als Zeuge gegen den serbischen Kriegsberbrecher Duric vor dem UNO-Tribunal in Den Haag aussagen soll. Alen fängt die Oberstaatsänwältin und Anklägerin in einer Verhandlungspause ab: „Das Gebet hilft, wenn sie Aufgaben vor sich haben, die ihre ganze Kraft benötigen.“, erklärt er ihr. „Ich halte es mehr mit Schokolade.“, erwidert sie. Kurz darauf kommt heraus, dass Alen falsch ausgesagt hat, der Prozess droht zu kippen, Hannah macht ihm heftige Vorwürfe, dann bringt Alen sich um.

So fängt der Film Sturm von Hans-Christian Schmid an, der sich für Hannahs persönlichen Motive, die Brüche, die Stärken und für ihre Integrität interessiert. Sie plagt sich moralisch und emotional mit dem Selbstmord Alens herum und begibt sich auf Spurensuche ins ehemalige Jugoslawien, stößt aber in der Republik Srpska, die im serbischen Teil Bosnien-Herzegowinas liegt, auf verschiedene Widerstände. Einerseits findet sie verkrustete, kaum aufgearbeitete Strukturen vor, die nach wie vor Gewalt ausüben und einer politische Mafia gleichen. Andererseits sind die demokratischen Kräfte an einer Integration in die EU interessiert, dafür wollen und müssen sie die Vergangenheit hinter sich lassen.

In Serbien trifft Hannah auf Alens Schwester Mira (Anamaria Marinca), die das erlebt hat, was ihr Bruder vor Gericht nicht bezeugen konnte. Sie überredet Mira in Den Haag auszusagen und dort von den Geschehnisse im Krieg und von ihren Vergewaltigungen zu berichten.

Doch als Mira endlich in Den Haag ankommt, ist bereits ein juristischer Deal vereinbart worden und sie darf in der Verhandlung nur über einen kleinen Teil ihrer Erlebnisse aussagen. Die eigentlichen Vergewaltigungen werden im Prozess ausgespart. Neben der offensichtlichen Ungerechtigkeit, wird ihr die hart erkämpfte Chance der Karthasis versagt.

Anlässlich des Internationalen Frauentags hatte die Eiszeit Kino-Betreiberin Suzan Beerman am Montag, den 9. März 2010 den Film Sturm nochmals aufgeführt und außerdem den Regisseur Hans-Christian Schmid und die Produzentin Britta Knöller zum Gespräch eingeladen. Der Film war im Herbst 2009 in den Kinos gelaufen, kurz nur, wie das meistens so mit den kleinen Filmen ist, aber damals hatte ich ihn verpasst. Sehr schade, denn Sturm ist ein großartiger Film, der trotz seines juristischen Thrillerplots nicht die Frage nach einem Schuldigen stellt oder nach einer Auflösung verlangt.

Im Grunde geht es vor allem um die Frage: Wie geht es diesen beiden unterschiedlichen Frauen Hannah und Mira, welchen Schritt gehen sie als nächstes? Den Haag und die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien bestimmen zwar den Hintergrund und einige der zeitlichen Plotabläufe, vor allem aber müssen sich die beiden Frauen mit widrigen Umständen, Erlebnissen, Konsequenzen und persönlichen Entscheidungen herumschlagen.

Auf Alens Trauerfeier, als Hannah das erste Mal auf Mira trifft, zeigt diese auf ein Rocky-Filmplakat, das Alen in der Wohnung aufgehängt hat und fragt: „Schauen sie sich solche Filme an? Wo das Gute am Ende immer gewinnt? Das hat er sich gewünscht.“ Damit hat der Film seine eigene Programmatik vorweggenommen: Weder Mira noch Hannah werden einfache Antworten finden und wo die Wahrheit auftritt, muss sie sich oft als Lüge verkleiden, denn der Film erzählt auch von den grundsätzlichen Problemen des Strafrechts und von den spezifischen des ICTY in Den Haag, wo Gerechtigkeit und Recht nicht zwangsläufig so deckungsgleich sind, wie sich das von einer Öffentlichkeit gewünscht wird.

Das ist nicht nur Miras Problem, die sich zur Aussage durchringt und dann abgewiesen wird, sondern das erkennt man auch am Gesicht der Schauspielerin Kerry Fox, die Hannah spielt, und permanent versucht eine Waage zu finden, zwischen der Empathie gegenüber dem Opfer und der Distanz der Rechtsausübung.

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Die Figur der Hannah ist der Oberstaatsanwältin Hildegard Uertz-Retzlaff nachempfunden mit der sich Hans-Christian Schmid im Vorfeld oft getroffen hat und die das Team auch beim Drehbuch beraten hat. Hildegard Uertz-Retzlaff ist mittlerweile Anklägerin im Fall Radovan Karadzic, der 2008 verhaftet wurde. In Den Haag hat sie derzeit mit ähnlichen Problemen zu kämpfen wie die fiktive Hannah: Sie versucht die Vergewaltigungen in der sowieso schon zu langen Anklageschrift unterzubringen und rennt genau wie die Juristen im Film gegen die Zeit an, die Verfahren sollen nämlich kürzer und „schlanker“ werden.

Im Buch zum Film, herausgegeben von Schmid und dem Drehbuchautor Bernd Lange, findet man, neben anderen interessanten Interviews, ein spannendes Gespräch mit Uertz-Retzlaff. Überhaupt ist das Buch eine gute Überbrückung bis der Film endlich mal wieder irgendwo aufgeführt wird.

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