Die angestrengte Suche nach dem Unterschied
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Forschungsgelder sind bekanntlich knapp: Wissenschafter_innen arbeiten unter Konkurrenzdruck, sollten dementsprechend schneller und innovativer sein als ihre Kolleg_innen und vor allem die wirklich brennenden Fragen unserer Zeit bearbeiten. Oder aber nach geschlechtsspezifischen Unterschieden suchen.
„Die Wahrnehmung des Geschlechts ist einer Studie zufolge vom örtlichen Kontext abhängig. Je nachdem, wo Gesichter im Blickfeld auftauchen, erhalten sie eine weiblich oder eine männliche Note“, war jüngst auf orf.at zu lesen.
Im Rahmen dieser Studie am (äußerst renommierten) MIT wurden Testpersonen vor einen Bildschirm gesetzt und mit Fotografien von „sehr weiblichen“ bis hin zu „sehr männlichen“ Gesichtern konfrontiert. Die gezeigten Bilder blitzten 50 Millisekunden an einem zufällig gewählten Ort auf. Ob ein „androgynes“ Gesicht von den Teilnehmer_innen nun als weiblich oder als männlich eingestuft wurde, hing jeweils vom Ort ab, der Zusammenhang Ort/Geschlecht erwies auf sich auf individueller Ebene als stabil. Ein übergeordnetes Muster, eine „Sexualgeografie des Blickfeldes“ wurde allerdings nicht gefunden: Nicht alle Testpersonen glaubten etwa links oben Männer und rechts unten Frauen zu sehen.
Vielleicht fehlt mir ja einfach das naturwissenschaftliche Verständnis dafür, aber welche Erkenntnis liefert uns diese Studie? Oder anders gefragt: Warum wurde überhaupt nach einer „Sexualgeografie des Blickfeldes gesucht? „Derartige geschlechtsspezifische Verzerrungen dürften aber im Alltag keine Rolle spielen. Denn erstens sind reale Gesichter größer, plastischer und verschwinden in der Regel auch nicht nach 50 Millisekunden“, gibt orf.at selbst die Antwort.
Hätte sich ein eindeutiger Geschlechtsunterschied festmachen lassen, so hätten viele Biolog_innen und Psycholog_innen zumindest aufatmen können: Es gibt ihn, den viel zitierten Unterschied. Das können wir wissenschaftlich belegen. Auf welchem Gebiet dieser Unterschied gefunden wird, ist offensichtlich zweitrangig – Geschlechtsunterschiede sind per se wissenschaftlich interessant.
Mehr Erfolg hatte übrigens ein Psychologe der Harvard University. Im Rahmen seiner prämierten Studie konnte er nachweisen, dass „wir ein androgynes Gesicht als weiblich wahrnehmen, solange der Bildkontrast gering ist.“ Offen bleibt natürlich die Frage, warum es eigentlich von Bedeutung ist, Gesichter möglichst effizient und eindeutig als männlich oder weiblich identifizieren zu können. Auch wenn ich die Artikel der zitierten Wissenschafter_innen nicht vollständig gelesen habe, so gehe ich davon aus, dass ihre Vorannahmen, was Geschlechterwissen betrifft, mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit gar nicht bis wenig reflektiert wurden. Wie mensch eine „weibliche Note“ im Gesicht wissenschaftlich fundiert definiert, wäre etwa durchaus interessant.
Allen, die nun angesichts dieser Forschungsergebnisse verunsichert zurückbleiben, sei ein hilfreicher Tipp des ORF-Journalisten mit auf den Weg gegeben: „Zweitens kann man sich im Zweifelsfall an Frisur und Kleidung orientieren. Zumindest meistens.“