And the winner is…
Von Gaby Summen
Jedes Jahr gibt es einen Wettbewerbs-Film, den ich verpasse, weil er in aller Herrgottsfrühe im Berlinale Palast gezeigt wird und ich gerade kein weiteres schweres Menschenschicksal, dass womöglich noch in einem unterdrückten Land spielt, mehr sehen kann. Vorletztes Jahr war das „La Teta Asustada“. Letztes Jahr, war dieser Film „Bal“ und in diesem Jahr war es „Nader And Simin, A Seperation“. Diese Filme sind leider immer sichere Kandidaten für den goldenen Bären. So auch dieses Mal. Wer also im nächsten Jahr vorzeitig wissen möchte, wer den goldenen Bären gewinnt, der möge sich vertrauensvoll an mich wenden. Eine Menge goldene Bären abgeräumt, nämlich einen für den besten Film und gleich zwei silberne für die besten Darstellerinnen und die besten Darsteller hat also der iranische Film „Nader And Simin, A Separation“. Doch worum geht’s? Simin, die Ehefrau will weg aus dem Iran. Sie möchte, dass ihre Tochter unter besseren Lebensumständen aufwächst. Doch ihr Mann Nader möchte seinen demenzkranken Vater nicht im Stich lassen. Verzweifelt reicht Simin die Scheidung ein. Doch der Richter lehnt ihren Antrag ab und das Beziehungsdrama nimmt seinen Verlauf.
Aber macht Euch doch selbst ein Bild mit nachfolgendem trailer und einem Interview mit dem rasenden Berlinale-Reporter Dieter Moor:
[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=GSTrjaH79FE[/youtube]
Der große Preis der Jury, der silberne Bär ging an den monomanen Misanthropen Béla Tarr, seinen Film „The Turin Horse“ habe ich auch sehr genossen und sogar in der darauffolgenden Nacht davon geträumt… Empfehlen möchte ich dieses Filmmonument jedoch niemandem, denn ich kann auch verstehen, dass es Menschen gibt, die den windigen Film – der von dem Pferd inspiriert wurde, dass Nietzsche vielleicht um den Verstand gebracht hat – womöglich für arschlangweilig halten. In diesem Schwarzweiß-Film passiert objektiv gesehen sehr wenig, wobei dass Schöne an den Plansequenzen des ungarischen Muffelkopps ist, dass man getrost kurz wegnicken kann und sich eine Minute später noch in der gleichen Einstellung befindet. Der Trailer der „Erschöpfungsgeschichte“ spricht Bände – der Letzte macht das Licht aus, ein Film der pessimistischen Weltuntergangsbeschwörern sicher große Freude bereiten wird.
[youtube]http://www.youtube.com/watch?v=tWYoqi4Kpw4[/youtube]
Der silberne Bär für die beste Regie ging an den recht sympathischen Regisseur Ulrich Köhler für seinen Film „Schlafkrankheit“. Ich mochte den Film auch, unser Berliner Bürgermeister eher weniger, wie man munkelt. Dabei handelt es sich bei dem Drama mit dem leicht zu verballhornenden Titel doch um ein Produkt der sogenannten „Berliner Schule“! Darunter versteht man den losen Zusammenschluss von Filmemachern, die undramatische, realtitätsnahe Filme mit klaren Bildern ohne Musikuntermalung bevorzugen. So bewegt sich auch dieser Film jenseits aller Afrika-Klischees – und wirkt deshalb umso unbegreifbarer.
Doch worum geht es in der von Köhlers Autobiographie inspirierten Geschichte? Ebbo, ein Entwicklungshelfer (und Arzt) – toll gespielt von Pierre Bokma – schafft es einfach nicht, sich vom postkolonialen Kamerun zu lösen und seiner Familie zurück in die Heimat zu folgen. („Zwischen uns liegen fünftausend Kilometer und ein Moskitonetz“, hat er seiner Frau einst in einem wildpoetischen Liebesbrief geschrieben.) Ein kongostämmiger Arzt, der in Frankreich geboren ist und die europäische Persepektive repräsentiert, soll Jahre später im Auftrag der WHO die Effizienz der Klinik für Schlafkrankheit, die Ebbo immer noch leitet, überprüfen. Diesen Drehbucheinfall dass ausgerechnet ein sehr dunkelhäutiger, schwuler! Mann sich in Afrika sehr fremd fühlt, fand ich genial. Bei dem Film habe ich mich keine Minute gelangweilt und sehr viel Neues, Differenziertes über die Arbeit der Entwicklungshelfer erfahren – gestört hat mich höchstens, dass wieder einmal nur Männerschicksale die Hauptrolle spielen…(Bei unserem Bechdel-Test für Frauenfilme fällt „Schlafkrankheit“ also glatt durch!)
Den silbernen Bären für das beste Drehbuch bekamen Joshua Marston und Andamion Murataj für den ebenfalls von Männern dominierten sehr eindringlichenFilm „The forgiveness of blood“ über den jahrhundertealten Brauch der Blutrache im heutigen Albanien – unter dem die Jugendlichen und die Frauen besonders zu leiden habe.
Je ein silberner Bär für den besten Kameramann und die beste Produktionsdesignerin geht an „El Premio“ von Paula Markovitch. In Naturbildern am wellenumtosten Strand, die zuweilen an Schärfe verlieren und in sehr dokumentarisch wirkenden Bildern des kalten Alltags in einem kargen Strandhaus, wird aus der Perspektive eines kleinen Mädchens ihr Aufwachsen in Argentinien zu Zeiten der Militärdiktatur eingefangen. Insgesamt ein überzeugendes Spielfilmdebüt, vielleicht ein bißchen zu lang geraten und die Kinder wirken in einigen Szenen ein bißchen gekünstelt.
Der Alfred-Bauer Preis, der für den Film vergeben wird, der neue Perspektiven der Filmkunst eröffnet, geht in diesem Jahr an ein Lehrstück über die Vorgeschichte der RAF: „Wer wenn nicht wir“ von Andres Veiel.
Mein persönliches Fazit der diesjährigen Berlinale? Ein Wettbewerb, der wie ein empfindlicher Seismograph für politische und gesellschaftliche Unterströmungen wirkt, hat in diesem Jahr bestimmt nicht stattgefunden. Die dumpfe Schicksalsergebenheit vieler Frauen, die Resignation der Männer oder eben die gemeinsam gelebte unpolitische gepflegte Langeweile, die in zu vielen Filmen zelebriert wird, stößt mich ab und bildet meiner Meinung auch nicht die Realität ab – in einer Welt in der zur Zeit immer mehr Menschen mutig auf die Straße gehen und gegen die tägliche Wiederkehr des Murmeltiers ankämpfen. So gesehen könnte uns 2012 ein revolutionärere Berlinale erwarten.