Zwei ProtagonistInnen. Zwei Extreme. Das Publikum mittendrin. Konfrontiert, miteinbezogen und mit impliziter Kritik wieder herausgeworfen aus dem Stück „Sofort geniessen“.
Im zuvor verteilten Faltblatt steht auf der einen Seite geschrieben: „Wir sind nicht dafür da, damit Sie sich eine Meinung bilden können.“ Der Rest des Stücks und Textes spricht dagegen. Einerseits bekommen wir die am-Prinzip-der-Lust-orientierte-Lebenseinstellung-zur-sofortigen-Erfüllung-von-Allem präsentiert. Andererseits die Frage danach, was denn nun die gesellschaftliche Avantgarde ausmacht, wenn das durchschnittliche Wir geprägt ist von einem Drang nach direkter Lustbefriedigung. Ständig beschäftigt mit der wilden „Jagd auf den ultimativen Genusskick“. Eine Jagd, welche „zur entfesselten Wunschmaschine wird, die ihre Träume ebenso schnell zerstört, wie sie sie herbei fantasiert“. Die Antwort folgt im Erkennen eines letzten Tabus: sich Einrichten in einem „wunschlosen Unglück“. Wird hier der Teil der Menschen bezeichnet – eine Avantgarde also – in der die Maschine, in der Antriebslosigkeit und Lustlosigkeit nicht so recht funktioniert?

Ganz anders die Protagonistin Mimi: „1st step: I am alone and I am naked, 2nd step: I call myself Mimi and I’m blonde, 3rd step: I need a partner …“ So beginnt sie, eigentlich Tabea, die sich von nun an aber Mimi nennt und Englisch spricht – das sei viel besser geeignet für positive Gefühle – ihren Part im Stück, mit mehr oder weniger dem Rezept zur extensiven Lusterfüllung. Schlag auf Schlag zeigt sie uns in ihrer Aufzählung spontane Lustausbrüche, im Ganzen begleitet von Unmengen von Sprühsahne, die als Requisit Momente schneller Freude und Lustbefriedigung unterstreicht und sexuell auflädt.

Ihr Gegenpart Matthias oder auch Rodolfo, der an so manchem im Leben durchaus Gefallen und Genuss empfunden hat, sich seiner Lebenslust mittlerweile aber nicht mehr ganz so sicher ist, gegenüber Mimi einfach etwas negativer wirkt und sich vielleicht auch hierdurch über sich selbst ein wenig im Unklaren ist, wenn er von früheren Hobbys erzählt: „Als Kind habe ich Muscheln gesammelt und Steine gesammelt, Fussballbildchen gesammelt. Dieses aufregende Gefühl, dass man nur noch einen Fussballer haben muss und dann ist das Album komplett. Daran kann ich mich noch ganz gut erinnern. Und das ist mit einer Muschelsammlung natürlich schon ein bisschen schwieriger. Ob ich jetzt 30 oder 3000 Muscheln gesammelt habe, die Sammlung wird eh nie komplett werden. So fühlt sich im Moment mein Leben ein bisschen an. Wie eine Muschelsammlung. Und ich weiss nicht mal, ob ich jetzt die Sammlung bin oder der Sammler.“

Er zeigt uns am Anfang und immer wieder im Laufe des Stückes die andere Perspektive, eine, die neben Mimi fast etwas untergeht, wenn er an den von ihr dominierten Szenen beinahe nur als Requisite teilnimmt. Und dennoch übermittelt er im Abschlusspart ein appellierendes Bild, das uns zum Ende hin direkt auf uns selbst zurückwirft. Ein Bild, demnach wir uns wie unter eine Sahnehaube vom Genuss verblendet die Sicht verbauen auf das, was uns erkennen lässt, worunter wir tatsächlich stecken – wenn wir, wie in Mimis Part ständig angetrieben vom Begehren und in permanenter Sahneschlacht irgendetwas hinterherzurennen scheinen.

So wirkt auch Mimi in einer späteren Szene ihrer Situation schnell wieder überdrüssig. Sie räumt bildhaft mit ihrem Leben auf, lässt die sahnigen Ergüsse und Überbleibsel ihrer hedonistischen Exzesse im Staubsauger verschwinden und beschliesst: „Nothing matters anymore, I move to another planet. And on this planet I start to construct my new paradise. 1st step: I am alone and I am naked. 2nd step: I want to make a difference. I want to be part of something. I want to help. I want to give. And I want to share.“ Sie steigt dramatisch auf ein Podest, ergreift das Mikrofon: „I want to be able to look at myself in the mirror and to think – Look at this woman! She`s somebody to look up to. Someone to remember. Someone to reach out and touch somebody`s hand. Make this world a better place if you can. Someone that makes you think – we can really, really, really do something about all the problems in this world.“

Irgendwie ironisch und auch ein wenig provokant, wenn die individuelle Lebensführung eine der doch nur begrenzt möglichen Auslegungen gesellschaftlich aufstrukturierter Optionen ist. Ob wir nun Leben im Primat des Genusses und der Selbsterfreuung oder altruistische Prinzipien zum Vorwand eines angenehmeren Blicks in den Spiegel nutzen. Wenn schon Tabea, als Verkörperung der freien Lebenswahl, ihre spontanen Einfälle so durchnummeriert, und jedes noch so, ach so freie hedonistische Leben letztendlich in Strukturiertheit endet, wo können wir dann noch hoffen Spielraum zu haben? Sollen wir überhaupt auf Unstrukturiertheit hoffen, oder darauf, vielleicht in den Strukturen Stück für Stück umzustrukturieren? Schliesslich wäre da ja noch die Avantgarde – „der Prototyp einer Zukunft, in der nichts mehr notwendig ist“.

Was nehme ich mit von Matthias letztem Bild, in dem er uns mit einer Wiese und zwei Käfigen voll mit Kaninchen konfrontiert? Auf der einen Seite Männchen, auf der anderen Seite Weibchen. Aufeinander losgelassen in dem Moment, wo die Käfigtüren geöffnet werden. Er steckt mittendrin. Allein unter Pärchen, als das eine Kaninchen, das übrigbleibt. Und wir können uns letztendlich alle vorkommen wie kopulierende Kaninchen, befangen in unserem Glück, erlegen einer Leichtigkeit des Seins und der wahren Schwermut des Lebens nicht bewusst? Oder war dies nur der dezente Hinweis darauf, dass wir eben doch nicht nur die SammlerInnen, sondern irgendwie auch die Sammlung sind?

„SOFORT GENIESSEN“ von und mit Tabea Martin, Matthias Mooij, Dramaturgie, Produktionsleitung: Peter-Jakob Kelting, 30-04-2011 Zentrum Paul KleeSchlachthaus Theater

Nora