Die EinwandererInnen, die seit den 1950er-Jahren in den abgelegenen Regionen im Norden Israels an der Grenze zum Libanon leben, sind AußenseiterInnen, sie bewegen sich am äußersten Rand der Gesellschaft. Es ist die Geschichte einer solchen jüdischen Familie, die von Marokko nach Israel gekommen ist, die Sara Shilos Roman „Zwerge kommen hier keine“ erzählt. Mit ihrem eindrucksvollen Debüt lässt sie diejenigen, die bisher keine Stimme hatten, zur Sprache kommen.

Shilos Figuren, das sind die Mitglieder der Familie Dadon, die aufgezehrt werden von der Trauer um den toten Vater, den Falafelkönig Mas’ud. Jede/r von ihnen hat Shilo ein Kapitel gewidmet, in dem er oder sie sprechen darf. Da gibt es zum Beispiel Itzik, der behindert auf die Welt gekommen ist und ein Falken-Weibchen aufzieht, das er trainiert und als Waffe gegen „die Terroristen“ einsetzen will. Für seine Zwecke instrumentalisiert er seinen Bruder Dudi und lässt ihn seine Macht spüren. Und da ist Kobi, der älteste Sohn, der heimlich Geld zurücklegt, um seiner Mutter Simone irgendwann ein besseres Leben zu bieten. Kobi ist es auch, der nach dem Tod Mas’uds die Vaterrolle einnimmt, um den erst nach dem Tod des Vaters geborenen Zwillingen eine heile Welt vorzuspielen. Die ist in Wahrheit nichts als eine Lüge, welche die Familie von innen zersetzt, auch wenn Shilo den drohenden Inzest zwischen Mutter und Sohn, die sich – um die Illusion zu wahren – das Bett teilen, nur andeutet.

Auch Simona, die schwer unter dem Verlust ihres Mannes, mit dem sie nur heimlich eine gleichberechtigte Beziehung führen konnte, leidet, gibt Shilo eine Stimme. Noch mehr als die Trauer reiben diese jedoch die Repressionen auf, die sie durch die orientalisch-jüdische Gesellschaft erfährt: „Sie wolln von dir, dass du mit ihm stirbst. Ihn haben sie schon tot unter der Erde, und du, du sollst für sie tot auf der Erde rumlaufen“, sagt sie. Simona schuftet wie eine Maschine im Haushalt und im Hort, in dem sie arbeitet, um ihre sechs Kinder ernähren zu können. Sie weiß, dass sie sich ausbeuten lässt und spricht es aus, wenn auch nur für die LeserInnen. Nein, Zwerge kommen hier wirklich keine – Simona bleibt alleine, einem Berg von Arbeit ausgeliefert, der sie langsam unter sich begräbt und ihr keine Luft lässt. Der einzige Ausweg scheint der Tod durch eine herabfallende Katjuscha aus dem Libanon und deswegen geht Simona nicht in den Schutzkeller, wenn die Bomben fallen.

Neben ihr gibt es mit der Tochter Etti eine weitere Frauenfigur, welche die wichtigen Dinge ausspricht: Sie träumt von einem besseren Leben, in dem sie Radioreporterin ist und die Familie endlich von der Last der Lüge befreit. Etti setzt sich von ihrer Familie ab, denn sie ist die einzige, die das Standard-Hebräisch beherrscht. Die anderen Figuren sprechen die Sprache des Landes, das jetzt ihre Heimat sein soll, nur gebrochen, was auch in der Übersetzung ins Deutsche von Anne Birkenhauer gut und angemessen umgesetzt wurde, ohne die Figuren lächerlich wirken zu lassen.

Bemerkenswert ist nicht nur die den Figuren mit ihren Emotionen eigene Sprache, immer wieder findet Shilo schöne, starke Bilder, zum Beispiel wenn es heißt: „Das Netz vom Tor macht aus dem Himmel ein Blech mit Baklava, und die Sterne sind die Mandeln drauf.“ Trotz solcher Bilder, die immer nur kurzweilige Lichtmomente sind, bleibt die Stimmung des Romans in ihrer Ausweglosigkeit drückend. Der Tod lastet schwer auf der Familie, er wird zu einem Teil von ihr, wie Etti sagt: „Der Jüngste in unserer Familie war damals Papas Tod – der war gerade ein halbes Jahr alt, ein Babytod mit diesem Geruch von frischem Tod, wo man noch nicht weiß, was aus ihm wird, wenn er groß wird.“

Shilo, die 1958 in Jerusalem geboren wurde, ist selbst Jüdin mit orientalischen Wurzeln und lebt seit 1976 in Nordgaliläa an der Grenze zum Libanon. Für „Zwerge kommen hier keine“, das 2005 in Israel erschienen ist und sich mehrere Monate auf der dortigen Bestsellerliste halten konnte, hat die Autorin einige Preise gewonnen, unter anderem den Sapir Prize, die höchste literarische Auszeichnung Israels. Nun ist Shilos Roman, der bereits 2009 in deutscher Übersetzung erschienen ist, auch als Taschenbuch erhältlich.

„Zwerge kommen hier keine“ ist ein Buch, das seinen LeserInnen die Möglichkeit gibt, denen zuzuhören, die normalerweise keine Stimme haben. Durch die Geschichten, die sie erzählen, und die ausgefeilte Ambivalenz der Charaktere hat Shilo ein Werk geschaffen, das gleichzeitig schön, ergreifend und traurig ist. Das Buch zeichnet sich durch eine drohende Spannung aus, die über dieser Familie, die sich im Verfall befindet, schwebt. Doch gerade durch diese drückende Schwere verhallen die Stimmen dieser AußenseiterInnen, die ansonsten nicht gehört werden, noch lange im Gedächtnis.

Sara Shilo „Zwerge kommen hier keine“ / aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, dtv, 304 S., 9,90 Euro, bereits erschienen.

Text: Ana Maria Michel

Bild: dtv