60 Jahre Bundesverfassungsgericht – Interpretationen von „Gleichberechtigung“
Von
Am 28. September 1951 wurde das Bundesverfassungsgericht gegründet und prägte mit seinen Entscheidungen Politik und Recht. Ich möchte im heutigen Eintrag an die erste Richterin am Bundesverfassungsgericht erinnern – Erna Scheffler gehörte von 1951 bis 1963 dem Ersten Senat an und prägte wichtige Entscheidungen zur Gleichberechtigung. Außerdem soll es um die verschiedenen Interpretationen von „Gleichberechtigung“ gehen, die das Gericht im Laufe der Jahrzehnte vorgenommen hat.
Die erste Richterin am Bundesverfassungsgericht – Dr. Erna Scheffler
Die erste Richterin am Bundesverfassungsgericht, Erna Scheffler, studierte Rechtswissenschaft und promovierte im Jahr 1914. Zu den juristischen Staatsexamina waren Frauen noch nicht zugelassen, erst Anfang der 1920er Jahre konnte sie beide Examina ablegen und war danach als Rechtsanwältin und in der Justiz tätig. Erna Scheffler hatte eine Tochter, ihre erste Ehe wurde geschieden. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde sie aus dem Justizdienst entfernt, aufgrund der „Rassengesetze“ durfte sie ihren späteren zweiten Ehemann Fritz Scheffler nicht heiraten. Sie überlebte den Krieg in Berlin – ab 1945 versteckt in einer Gartenlaube. Im Jahr 1950 hielt Erna Scheffler ein brilliantes Referat zum Thema „Gleichberechtigung von Mann und Frau“ auf dem Deutschen Juristentag. 1951 wurde sie Richterin im Ersten Senat – ihr Thema blieb die Gleichberechtigung, gerade ihr Einfluss prägte wichtige Entscheidungen zum Familienrecht und zur Ehegattenbesteuerung. Nicht zuletzt Erna Scheffler ist es zu verdanken, dass Art. 3 Abs. 2 GG nicht nur als ein Programmsatz interpretiert wurde. Mehr über sie könnt ihr lesen in einem Text von Ulla Rust bei der Bundeszentrale für politische Bildung und in diesem schönen Text von Till van Rahden.
Interpretationen von „Gleichberechtigung“
Nachdem Art. 3 Abs. 2 GG „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ im Grundgesetz verankert worden war, stellte sich natürlich die Frage nach dem Umgang mit diesem Gebot. Zunächst passierte nichts und das Bundesverfassungsgericht musste eine Umsetzung des Gebots im patriarchalen Familienrecht sogar anmahnen. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Thema Gleichberechtigung wird in vielen Analysen in Phasen eingeteilt. Das finde ich immer ganz hilfreich auch für das Verständnis und die Einordnung von politischen Einstellungen zum Thema Gleichberechtigung, die einem so im Alltag begegnen. Deshalb will ich Euch die Interpretationsvarianten mit ein paar Beispielen vorstellen.
Verschieden, aber gleichwertig
Eine Interpretation von Gleichberechtigung ist die Annahme, dass es eine naturgegebene Verschiedenheit von Männern und Frauen gibt, die auch die soziale Dimension von Geschlecht bedingt (also zum Beispiel geschlechtsspezifische Rollen ect.). Ein Beispiel dafür ist das in den 1950er Jahren vorherrschende Verständnis der Rollen von Frauen und Männern in Ehe und Familie. Die Frau führte den Haushalt „in eigener Verantwortung“. Ihr Unterhaltsbeitrag in Form der unbezahlten Arbeit galt als gleichwertig dem Erwerbseinkommen des Ehemannes. Aber auch in dieser Phase gab es Entscheidungen zum „Stichentscheid“ (bei der Umsetzung des Gleichberechtigungsgrundsatzes im Familienrecht wurde zunächst bei Meinungsverschiedenheiten der sogenannte „Stichentscheid“ des Vaters geregelt, der dann das letzte Wort haben sollte – dies erachtete das Bundesverfassungsgericht 1959 als verfassungswidrig, siehe dazu der Text von Till van Rahden) und zur Ehegattenbesteuerung (1957 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass eine Ehegattenbesteuerung mit dem Ziel, „die Ehefrau ins Haus zurückzuholen“ verfassungswidrig sei).
Rechtliche Gleichbehandlung
In der zweiten Phase wird Gleichberechtigung als rechtliche Gleichbehandlung interpretiert. Gesetze, die Unterschiede anhand des Geschlechts machten, wie zum Beispiel die Witwern nicht offenstehende Witwenrente, wurden nicht mehr akzeptiert (1975 entschied das Bundesverfassungsgericht zu den Witwenrenten). Auch Männer waren in dieser Phase mit Verfassungsbeschwerden erfolgreich, was in der ersten Phase nicht der Fall gewesen war. In den 1970er Jahren wurde auch das Familienrecht geändert, die Zuweisung der Hausarbeit an die Ehefrauen wurde zugunsten einer Regelung abgeschafft, die die einvernehmliche Entscheidung beider Ehegatten über ihre Arbeitsteilung verlangt.
Vom gleichen Recht zur Gleichstellung in der Wirklichkeit
Reicht aber die formale Gleichbehandlung aus angesichts der sozialen Unterschiede zwischen Frauen und Männern (und innerhalb dieser Gruppen)? Inzwischen interpretiert das Bundesverfassungsgericht Art. 3 Abs. 2 GG so: Als Verfassungsauftrag, der sich in die soziale Wirklichkeit erstreckt (also materielle Gleichheit statt formelle Gleichbehandlung). Der Gesetzgeber darf Regelungen treffen, die zum Ziel haben, tatsächliche Gleichstellung zu fördern (siehe meine Besprechung zu den Partnermonaten beim Elterngeld) und muss auch mittelbare Benachteiligungen im Recht bekämpfen (also wenn nicht direkt an das Geschlecht angeknüpft wird, aufgrund der Unterschiede in der Lebensrealität eine vermeintlich neutrale Regelung trotzdem benachteiligend wirkt). Ein Beispiel für eine solche Entscheidung der letzten Phase ist eine Entscheidung aus dem Jahr 2003 zum Mutterschutz: Damals entschied das Bundesverfassungsgericht, der Gesetzgeber müsse dafür Sorge tragen, dass Schutzpflichten (wie die Beschäftigungsverbote und Lohfortzahlung während der Schwangerschaft/nach der Geburt) nicht dazu führten, dass Arbeitgeber aufgrund der damit verbundenen Kosten auf Frauen verzichteten und so Nachteile auf dem Arbeitsmarkt entstehen bzw. verstärkt werden. Deshalb müssten diese Kosten in einem Umlageverfahren so verteilt werden, dass es für den individuellen Arbeitgeber keine Vorteile bringt, weniger Frauen einzustellen.
Fazit – Sternstunden und Peinlichkeiten
Im Zuge dieses 60jährigen Jubiläums wird viel über die politische Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts, Sternstunden und Peinlichkeiten berichtet. Aus der Gleichstellungsperspektive kann natürlich auch eine gemischte Bilanz gezogen werden, wenn man sich beispielsweise an die Abtreibungsurteile erinnert oder vor Augen hält, wie lange es dauern sollte, bis das Bundesverfassungsgericht anerkannte, dass Ehefrauen vielleicht ihren eigenen Namen weiterführen wollen. Die Rechtsprechung zur Gleichberechtigung kann man auch als einen Spiegel sich wandelnder Verhältnisse und gesellschaftlicher Diskurse ansehen. Während das Gericht im Jahr 1957 die Strafbarkeit homosexueller Handlungen von Männern billigte, weil soetwas gegen die „guten Sitten“ verstieße – machte es 2001 den Weg frei für die eingetragene Lebenspartnerschaft. Die größten Sternstunden der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gab es meiner Meinung nach gerade dann, wenn die Rechte marginalisierter Gruppen gerade gegen den Zeitgeist verteidigt wurden und ihre Grundrechte höher wogen als irgendwelche Institutionen. Mein Lieblingsbeispiel aus den letzten Jahren dazu ist eine Entscheidung zu der Frage, ob transsexuelle Menschen vor der rechtlichen Änderung ihres Geschlechts ihre Ehe scheiden lassen müssen. Während die damalige Bundesregierung argumentierte, die Institution Ehe müsse vor dem Entstehen gleichgeschlechtlicher Ehen geschützt werden, stellte das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2008 fest, auch die seit über 50 Jahre bestehende Ehe eines transsexuellen Menschen sei schützenswert und der Regulierungsanspruch des Staates müsse vor diesem Grundrecht zurücktreten.