Valerie ist aufgewühlt und besorgt. Beinahe hätte sie auch noch eine Frau am Flughafen angefahren, so sehr ist sie durch den Wind. Endlich kommt Jens an, der Exfreund ihres Sohnes, mit dessen Hilfe sie ihn wiederfinden will. Atemraubende Kälte herrscht zwischen den beiden.

So beginnt „Auf der Suche“ von Jan Krüger (2011) – ein Film, bei dem ich mich nicht entscheiden kann, ob er ein gruseliger Film über Mutterinstinkte und die Figur des verlorenen Sohnes oder eine Geschichte über fürsorgliche Bindungen jenseits eines Essenzialismus der Geschlechter ist. Eine gute Gelegenheit also, um einmal beide mögliche Sichtweisen zu benennen.

Simon, Valeries Sohn und Protagonist in Abwesenheit, war nach Marseille gezogen. Vielleicht, um neu anzufangen und Abstand von Valerie – und vielleicht auch von Jens – zu bekommen. Nun antwortet er nicht mehr auf Valeries Anrufe und war so komisch bei ihrem letzten Telefonat. Grund genug für Mutter Valerie nach Frankreich zu fahren, die Wohnung ihres Sohnes aufbrechen zu lassen und mit Polizei und Exfreund nach ihm zu fahnden.

Die Figur des Exfreundes Jens nimmt die Skepsis, die durch die anfängliche Inszenierung zurückgehaltener Betüddelung erweckt wird, auf. Der Abnabelungsdiskurs schlägt subtil zu und man (vielleicht auch insbesondere ich als ein Zuschauer, der als Sohn einer Mittelklassefamilie in Deutschland um die Jahrtausendwende sozialisiert ist) will sich Exfreund Jens anschließen mit dem stillen Appell, eine Mutter müsse ihr erwachsenes Kind sein eigenes Leben leben lassen. Vielleicht macht Simon ja einfach mal Urlaub oder was auch immer. Und dass Simon seiner Mutter schon lange nichts Relevantes aus seinem Leben mehr erzählt, hat sie sich ja wohl auch selbst zuzuschreiben – mit ihrer Ignoranz gegenüber seinem Lebensentwurf. Oder?

Mutterinstinkt oder fürsorgliche Liebe

Der weitere Fortgang gibt Valeries Sorge allerdings recht, sodass man den Film als eine weitere Geschichte über den vermeintlichen Mutterinstinkt sehen kann, wenn man das will. Valerie weiß schließlich einfach ohne es näher erklären zu können, dass etwas nicht stimmt. Und auch Jens wird in der Folge zunehmend besorgt sowie auch Simons Exfreundin Camille. Alle drei suchen gemeinsam die Stücke zusammen, die sie von Simon haben – und finden ihn am Ende tot.

Man kann „Auf der Suche“ allerdings auch als einen Film über Fürsorge sehen: Fürsorge, die bei allen dreien geweckt wird, in der Reihenfolge inszeniert entsprechend der Dauer ihrer jeweiligen Beziehung zum abwesenden Simon. Denn nach Valerie entwickelt auch Jens „so ein Gefühl“, und schließlich findet Camille zu den beiden. So gesehen lässt sich angenehmer Weise in „Auf der Suche“ ein Bild von Liebe im Sinne von Sorge und Kenntnis des bzw. der Geliebten finden, das auf die Kategorie Geschlecht völlig verzichten kann.

Der abwesende Protagonist als Projektionsfläche

Zugleich sehen wir, dass die geliebte Person Simon aus der Perspektive von Valerie, Jens und Camille jeweils unterschiedlich aussieht. Dabei rechtfertigt jedeR mit ihrem/seinem Wissen um Simon ein Bild von ihm, wie es zu seinen bzw. ihren Erwartungen passt.

Wer ist dieser Simon, dieser Protagonist in Abwesenheit, um den sich alles dreht? Für uns setzt sich eine brüchige und widersprüchliche Figur zusammen: homosexuell, oder doch auch hetero-, also bisexuell? Feste Partnerschaften oder doch viele Liebschaften? Intelligent und Arzt, missbraucht aber zugleich Beruhigungsmittel und ist auch polizeilich im Zusammenhang mit Drogen vermerkt.

Begegnen wir in „Auf der Suche“ also auf versteckte Art doch letztlich Stereotypen, die über homosexuelle Männer im Umlauf sind: Erotische Libertinage, Instabilität, Drogen, schneller Sex und zahlreiche „Flirts“, wie es Valerie ausdrückt? Jungs auf der Suche, ohne Anker, denen eigentlich konsequenterweise nur der Selbstmord bleibt?

Durch Valerie kommen diese Stereotype, mit denen die Figur des abwesenden Simon scheinbar konstruiert ist, auch explizit in den Film hinein, etwa wenn sie über die Partner ihres Sohnes sagt, sie seien nur bedeutungslose Flirts gewesen, nachdem sie kurz vorher von ihrer damaligen Schwangerschaft erzählt und die Idee unterstützt hatte, Simon und Camille hätten zusammenziehen wollen. Jens entlarvt prompt Valeries Vorurteil, nur eine heterosexuelle Beziehung könne eine ernste Beziehung sein. Allerdings nur, um daraufhin Camille suggestiv zu fragen, ob ihre Beziehung zu Simon überhaupt wirklich erotischer Natur gewesen sei. Eine Frage, die bedeutungsvoll unbeantwortet bleibt und Jens‘ Hoffnung offenbart, Homosexualität gehöre zu einem Menschen wie Simon wesentlich dazu und einE HomosexuelleR könne nicht wirklich heterosexuelle erotische Beziehungen haben.

Ein Film zur Offenbarung konstruierender Deutungen von Geschlechtlichkeit und Begehren

Was Valerie und Jens hier verbindet, ist die Annahme einer für das Leben einer Person festen Begehrensstruktur, die wesentlich in zwei Ausgaben herauskommt – homo- oder heterosexuell – und mit der Selbstentfaltung zu tun hat.

Man kann die Pluralität der rekonstruierten Liebschaften des abwesenden Simon – die fragile Anlage seiner Figur überhaupt – daher als eine Konzession des Films daran lesen, dass ein Essenzialismus in Bezug auf ein geschlechtliches Selbst nicht stimmig ist: Begehren und Sexualpraktiken sind in ihrer konkreten Form bei unterschiedlichen Menschen in unterschiedlichen Kulturen und im Laufe eines Lebens prinzipiell wandelbar. Und dies nicht etwa deshalb, weil manche Menschen für die Entfaltung ihres tiefen Wesenskerns Zeit bräuchten, sondern, weil Menschen nicht mit einer festen Begehrensstruktur geboren werden.

Dies hätte der Film meiner Meinung nach deutlicher thematisieren können. Dissens wird nicht länger als einen vagen Satz oder eine kurze Frage lang aufgeführt, stattdessen bleiben diese Themen – um die es Regisseur Jan Krüger ja vielleicht gegangen sein könnte – unter der Oberfläche und damit unsichtbar. Wir spüren nur ihre Auswirkungen, rätseln über diesen komischen Simon. Aber Deutungen werden nicht als solche thematisiert.

Oder ein essenzialisierender Gruselfilm für Anti-Essenzialist_innen

Das ist sehr schade, denn die essenzialistische Lesart funktioniert bei diesem Film leider genau so gut. Daher kann „Auf der Suche“ auch wie ein großer performativer Akt wirken, der das Klischee von der gebrochenen Sonderfigur des verlorenen homo-hetero-bi-sexuellen Sohnes bestätigt, auf den kein Verlass ist, der sich nicht finden kann. Der letztlich mit nichts und niemandem richtig zurecht kommt und sich das Leben nimmt. Eine Figur, die auch keine Chance hat, weil ihr wesentliches inneres Selbst im Bannkreis seiner Mutter nicht zur Entfaltung kommen kann, möglicherweise auch noch im Zusammenhang mit dem Fehlen der Vaterfigur in der Story. „Ödipuskomplex nicht gelöst usw.“ raunen schon die essenzialistisch-psychoanalytischen Reflexe aus fast vergangenen Zeiten.

Das essenzielle Drama der Mutter schlechthin wäre es in dieser Erzählung, qua besonderer mütterlicher Fähigkeiten über Ländergrenzen hinweg zu fühlen, dass es ihrem Sohn schlecht geht, obwohl dieser ihr so gut wie nichts mehr erzählt. Längst begrabene, dubiose Deutungen von Homosexualität als Resultat einer misslungenen Pubertät, in der sich sozusagen die metaphysische Wandlung vom Kind zum Erwachsenen vollziehen sollte, erstehen wieder auf und steigen durch die Hintertür auf leisen Sohlen aus den Untiefen der Leinwand empor. Wie sehr die Mutter einfach recht hat, muss ja schließlich auch der Exfreund anerkennen.

„Auf der Suche“ ist demnach entweder ein beängstigend rückständiger Film, ein Gruselfilm für Anti-Essenzialist_innen, der in seiner Anlage traditionelle Bilder von Mütterlichkeit, Homosexualität und Selbstkonstitution reproduziert. Oder aber ein gelungener Film, an dem sich die Konstruktion von Weltverständnissen aktiv im Selbstexperiment nachvollziehen lässt. Welche von beiden Sichtweisen man als Zuschauer_in einnimmt, kommt ganz auf den Hintergrund an, vor dem man „Auf der Suche“ sieht.

Wenn nichts eindeutig ist, hat das leider auch Nachteile. Hierin liegt die Schwäche und auch die Stärke des Films.