London im Jahre 1947. Die lesbische Kay (Anna Maxwell Martin) blickt aus dem Fenster ihrer kahlen Wohnung, in der sich die unausgepackten Kisten stapeln. Während des Krieges arbeitete sie als Rettungssanitäterin und war stark für Andere. Zwei Jahre nach Kriegsende verlässt sie das Haus nur noch, um gedankenverloren durch die Straßen zu irren, eine farblose Gestalt, deren Konturen in weiter Männerkleidung verschwimmen, grau wie die Nachkriegsstadt, in der sie lebt. Während es scheint als würden alle anderen Bewohner_innen langsam zurück in den Alltag finden, erdrückt Kay die Wucht ihrer Erinnerungen.

Wie Erinnerungen ist auch der Film an sich aufgebaut: die Zuschauer_innen begegnen den Hauptcharakteren zu drei verschiedenen Zeitpunkten zwischen 1941 und 47 im Rückwärtsgang. Dass ihre Geschichten alle miteinander verknüpft sind, lässt sich erst im Verlauf der Produktion erkennen. Jede der Figuren weist einen komplexen Charakter auf. Neben Kay gibt es da noch die sich nach Liebe sehnende Helen (Claire Foy), die zusammen mit ihrer Assistentin Viv (Jodie Whittaker) eine Art „Nachkriegs-Singleagentur“ betreibt. Dass die naive Helen eine Beziehung hat, ist Viv bekannt. Jedoch weiss sie nicht, dass es sich dabei um die erfolgreiche Schriftstellerin Julia (Anna Wilson-Jones) handelt: Die Wirren des Krieges dienten Helen als Versteck ihre Sexualität. Noch immer kann sie nicht offen dazu stehen. Ihre Beziehung leidet unter großen Verlustängsten, die aus dem ewigen Zweifel rühren, dass Julia nur „aus Rache“ mit ihr zusammen ist.

Ähnlich vorbelastet ist Vivs Beziehung mit Reggie (Liam Garrigan). Sie ahnt, dass Reggie seine Frau und die Kinder auch nach sechsjähriger Affäre nicht verlassen wird. Als wäre das nicht genug Ärger, muss Viv sich auch noch ernsthafte Sorgen um ihren labilen Bruder Duncan (Harry Treadaway) machen, der nach einem zweifelhaften Urteilsspruch gerade aus dem Gefängnis entlassen wurde. Unverhofft trifft er auf seinen alten Mitinsassen, der in ihm einst ein unvergessliches Verlangen geweckt hat…

Drehbuchautorin Paula Milne adaptierte Sarah Waters gleichnamiges Buch für den in diesem Jahr erschienenen Film. Auf mehreren Queeren und schwul-lesbischen Festivals rund um den Globus wurde er schon gezeigt. Ich selbst stieß letzten Winter auf ein anderes Buch von Waters namens „Tipping the Velvet“, das mir die kalte Jahreszeit mit lesbischer Erotik und jeder Menge Herzschmerz erwärmte. Mit entsprechend hohen Erwartungen betrat ich fast ein Jahr später den Kinosaal und sollte nicht enttäuscht werden: Zwar geht es in dem Film nicht ganz so oft zur Sache wie ich erwartet hatte, aber darum ging es Regisseur Richard Laxton auch nicht. Die Komplexität der Geschichte steht im Vordergrund.

Spannend wird der Streifen vor allem durch die rücklaufende Erzählung. Sie liefert einen interessanten Einblick in die Bestrebungen der schwul-lesbischen Szene jener Zeit: Da die meisten Männer an der Front sind, müssen Frauen besonders mit anpacken und können ihre Ideen entfalten. So hofft insbesondere Kay auf einen emanzipatorischen Umbruch nach dem Krieg. Und auch Modefans der 1940er Jahre kommen hier voll auf ihre Kosten: Vom rosa Seiden-BH bis zur Nachttischlampe stimmt wirklich jedes Detail.

Der Film selbst kann durchaus auch als kitschig beschrieben werden – im positiven Sinne. Zwei kleine Mankos sollen jedoch erwähnt werden: Zum einen betrifft dies die Figur Duncan, der neben den starken Frauencharakteren wie der schwule Klischee-Bubi daherkommt. Zum anderen nerven die etwas zu theatralischen Streicher im Hintergrund. Trotzdem ist „The Night Watch“ ein empfehlenswertes Drama, das nach Tee und Einmummeln auf dem Sofa an einem Sonntagnachmittag schreit.

Text: Theresa Bachmann