Als am 28. Dezember 1895 eine panisch kreischende Menschenmasse vor einer vermeintlich auf sie zurasenden Eisenbahn aus dem Saal floh, drehten die Gebrüder Lumiere, die grade ihren „Cinematographen“ zum ersten mal der (Pariser) Öffentlichkeit präsentiert hatten, wahrscheinlich gerade lächelnd an ihren Schnurrbärten. Die rasante Entwicklung des neuen Mediums konnte schon erahnt werden, schließlich schien es die vermeintliche Realität abzubilden wie kein anderes. In der Welt des Kinos hat sich seitdem, neben der Tatsache, dass es mittlerweile auch Regisseur_innen gibt, einiges verändert. Zum einen kann uns heute eine Eisenbahn im Kino nicht mal ein müdes Lächeln abgewinnen (auch nicht in 3D). Zum anderen bildet es Raum für verschiedene Genres jenseits der Blockbuster, die einen wachen Blick auf gesellschaftliche Missstände richten und das, was wir für Realität und „gegeben“ hinnehmen, kritisch hinterfragen.

Queere Kino-Welten

Dass dies im Queer Cinema manchmal nicht immer ganz klischeefrei über die Bühne geht, illustriert das Best of der Lesbisch-Schwulen Filmtage Hamburg, die im Rahmen der Queerstreifen Münster liefen. Die große Schwester der Queerstreifen, die auch gleichzeitig das zweitgrößte Filmfest der Hansestadt ist, ist übrigens mit leppischen 22 Jahren auch schon das älteste schwul-lesbische Filmfestival Deutschlands. Kurz vorab: „Hit so Hard“, eine Doku über die tighte Hole-Drummerin Patty Schemel (Missy berichtete), hat es unverständlicher Weise nicht ins Münster-Programm geschafft. Keine Ahnung, was da los war. Dafür werden im Best of, neben dem allgemein bekannten Beziehungs-Hickhack, auch Lebensentwürfe in den Fokus gerückt, die unter einem anderen Sternchen stehen.

It’s in the water

Den Auftakt macht dabei „Cold Star“ von Kai Stännike (Gewinner der Kategorie: Made in Germany), in dem eine mysteriöse Frau (gespielt von Charakterface Rita Dieter Scholl) im Schwimmbad einen Jungen zum Sprung ins kalte Wasser ermutigt. Die zunächst bedrohlich homophob wirkende Stimmung weicht schlagartig einer feuchtfröhlichen Knutschorgie im Becken, bei der verschiedenste Varianten von Begehren ausgelebt wird. Das audiophile Werk, das gleichzeitig als Musikvideo der wavigen Elektro-Goth-Band Din (A) aus der Hauptstadt fungiert, ist eine großartige Homage an die Toleranz und absolut nichts für Fußfetischisten!

Wie kompliziert Beziehungen manchmal sein können illustriert „Roommates“ von Nerd-Queen Caitlin Parker. Hier verknallt sich ein Roomie, gespielt von Poetry-Slamer, Rapper und XX-Boy Rocco Katastrophe in die tolle Mitbewohnerin, die ebenfalls auf Frauen steht – ein aussichtsloses Unterfangen. Dabei kennt sie die Narben unter seiner Brust noch nicht… Ob die Tatsache, dass ihr stark tätowierter Mitbewohner früher mal (aber gefühlt eigentlich nie) ein Mädchen gewesen ist, etwas an ihrem rein platonischen Verhältnis verändern kann, wird dabei nicht gelüftet. Ein hipper Kurzfilm, der mit schönen Metaphern arbeitet und eindrucksvoll die Problematiken einfängt, mit denen sich Transleute oft konfrontiert sehen. Sehr sehenswert.

Auch im schottischen Beitrag findet das oft vernachlässigte Thema Anklang. In „James Dean“, der den diesjährigen Preis in der Kathegorie gender bender abgeräumt hat, nutzt die 14-jährige Alex einen erzwungenen Familienausflug, um ihren Lieben endlich zu zeigen, wie viel wohler sie sich in einer anderen Haut fühlt. Neben dem Veilchen vom Vormittag aus der Schule und den ziemlich blöden Sprüchen der Sippe werden gesellschaftliche Widerstände gezeigt, mit denen sich Alex täglich konfrontiert sieht. Gegen Vorurteile musste sich ja bekanntlich schon der Namensgeber dieses Kurzfilms im Klassiker „Denn sie wissen nicht was sie tun“ durchboxen. Lucy Asten Parkers Filmheld_in stellt ihn im lässigen Rowdy-Look aber ziemlich in den Schatten.

Die Filme zum Thema Transgender illustrieren schön, wie fließend Geschlechterkategorien aussehen können und schaffen es dabei, einen kleinen Einblick in die Vielfältigkeit von Identitätsentwürfen und Problemen auf der Transfläche zu geben.

Es ist die Angst, die Grenzen setzt: Thema Outing

Großen Anklang findet auch das Thema Outing in der Kurzfilmauswahl. In „Flyers“ verfolgt die Protagonistin eine unbekannten Person, die Handzettel mit bösen Gerüchten über die Homosexualität der jungen Frau streut. Filmemacherin Laura Terruso schafft in ihrem nur drei Minuten langen Werk eine erkenntnisbringende Traumsequenz in Schwarzweißästhetik, die stark an Ingmar Bergmanns „Wild Strawberries“ erinnert. Mit einem kleinen Unterschied: die Tatsache, dass sich die Protagonistin am Ende des Filmes selbst gegenüber steht und ihrer tief verinnerlichten Angst vor dem „Anderssein“ in die Augen blickt, führt in Flyers nicht zu blankem Horror, sondern einer sichtlichen Erleichterung.

Diese erlebt auch ein Vater im spanischen Beitrag „Todo queda en familia“. Er hegt den furchtbaren Verdacht, dass sein Sohnemann das Ufer gewechselt haben könnte. Die mysteriöse Bekanntmachung des Sohnes, die er gerne unter vier Augen mit Vati besprechen will, bringt diesen an den Rand der Verzweiflung: Im Vorhinein beinahe vom Herzklabaster dahingerafft und erst nach einem Joint (dem ersten nach 30 Jahren) zum Gespräch bereit, wird ihm dabei offenbart, dass es sich nur um einen Studienabbruch handelt. Ein etwas fragwürdiger und vor allem klamaukiger Film also, der das ein oder andere Klischee raushaut. Der alternde Protagonist überdenkt seine homophobe Grundhaltung keineswegs, bis ihm der Sohn offenbart, dass er gerne eine Friseurausbildung beginnen möchte.

Never Change a Winning Clichee

Die Frage, ob Filme queeren Inhaltes immer politisch korrekt sein müssen, wird in Lauren Palmingiaros Beitrag „Cried Suicide“ mit einem klaren NEIN beantwortet. Jay hatte einen Selbstmordversuch vorgetäuscht, um ihre Ex-Freundin zurückzugewinnen. Jetzt muss sie mit den Konsequenzen umgehen. Autsch. Dabei werden Stereotype der lesbischen Drama-Queen mit einer Affinität zum Morbiden und deren beste schwule Freunde (anstrengende Heulbojen) reproduziert – und das in Kombination mit gruselig-schlechten Schauspieler_innen. Über Humor lässt sich ja bekanntlich streiten..

Ebenso klischeehaft geht es auch in „Bus Pass“ zu, diesmal gehen wir jedoch unseren eigenen Erwartungen auf den Leim. Die Gedanken eines Mädchens, dass sich überlegt, ob die schöne Mitfahrerin wohl auch auf Frauen stehen könnte, werden zunächst der burschikoseren von beiden zugeschrieben. Ein Perspektivwechsel am Ende der Busfahrt lässt uns jedoch erkennen, dass ein feminines Äußeres nicht heißen muss, man könne das andere Geschlecht nicht begehren. Eigentlich banal, verursacht aber einen schönen Aha-Effekt, der (durchaus laut im Kinosaal hörbar) dazu anregte, sich in Sachen Klischeereiterei mal an die eigene Nase zu fassen und die Schubladen im Kopf neu zu beschriften.

Das Best of der Schwul Lesbischen Filmtage Hamburg bildet einen guten Queerschnitt aus aktuellen Kurzfilmen und Publikumslieblingen und schafft es mal wieder, die übliche Ken-und-Barbie-Konstellation auf spielerische Art durcheinander zu wirbeln. Ein Wermutstropfen ist die Tatsache, dass sich der diesjährige Festivalschwerpunkt „Türkei“ so gar nicht in der Kurzfilmauswahl wiederfinden ließ. Eine prall gefüllte Wundertüte mit fast ausschließlich guten Sachen war es trotzdem — mal arty farty, mal humorvoll wurde ein schönes Spektrum an queerer Subkultur im Film dargestellt.

Und doch nervten dabei einige der dargebotenen Klischees über „die Szene“. Natürlich müssen die Beiträge, nur weil sie gesellschaftliche Randgruppen repräsentieren, nicht immer politisch korrekt sein. Sicher ist Selbstironie auch oft ein gutes Rezept gegen Intoleranz, denn wer über sich selbst lachen kann, dekonstruiert damit auch Anfeindungen von Außen. Aber vielleicht ist es mit den Klischees manchmal ein bisschen wie mit der Eisenbahn: Irgendwann können sie uns einfach nicht mehr hinter dem Ofen hervorlocken.

Text: Hannah Zipfel