Team Populäre Unterhaltung: Tatort: Die Darstellung von Disorders of Sex Development (DSD)
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Als Tatort-Fan fand ich das Thema, das im letzten Tatort „Skalpell“ am 28.05 aufgegriffen wurde, besonders spannend. Die Darstellung von Intersexualität, auch DSD genannt, und deren Behandlungsstandard stand dabei im Fordergrund, auf die ich mich in meinem heutigen Blogtext beziehen werde.
Zunächst zum Inhalt: Dr. Lanther, Kinderchirurg einer Klinik, wird bei einem Solidaritätslauf ermordet aufgefunden. Die Schweizer Kommissare Reto Flückiger und Liz Ritschard ermitteln in diesem Fall. Zunächst gibt es mehrere Verdächtige, bis die genaueren Hintergründe von Dr. Lanthers Aufgabenbereich im Krankenhaus aufgeklärt werden. Jener hatte sich nämlich auf das so genannte DSD-Syndrom spezialisiert, bei dem nicht alle geschlechtsdeterminierenden und geschlechtsdifferenzierenden Merkmale des Körpers (z.B. die Chromosomen, Gene, Hormone, Keimdrüsen, äußere Geschlechtsorgane) einem Geschlecht entsprechen oder einem Geschlecht klar zugeordnet werden können. Die Menschen, die diese Symptome zeigen, werden im Volksmund auch Zwitter, Hermaphroditen oder intersexuelle Menschen genannt. Der Aufgabenbereich Dr. Lanthers bestand zu seinen Lebzeiten also darin, die „Betroffenen“ einer frühmöglichsten Geschlechtsangleichung zu unterziehen, um die Zugehörigkeit des Kindes zu nur einem Geschlecht herzustellen. So hatte er unzählige Kinder operiert, wobei mindestens sieben von ihnen, wie sich im Laufe der Ermittlung heraus stellt, mittlerweile Selbstmord begangen hatten und eine/r seiner früheren Patient/innen auf Grund des dringenden Tatverdachts in Untersuchungshaft genommen wird. Bei jener Person handelt es sich nämlich um ein augenscheinliches Mädchen (wurde auch zu jenem operiert), das sich jedoch dem männlichen Geschlecht zugehörig fühlt, „also im falschen Körper steckt“. Schlussendlich stellt sich jedoch heraus, dass die Eltern einer früheren Patientin Lanthers, die mittlerweile auch Selbstmord verübt hatte, die Tat begangen haben, um sich für den Freitod ihres Kindes zu rächen.
Tatsächlich gibt es in der Schweiz jährlich mehr intersexuelle Neugeborene, als jene, die beispielsweise mit Downsyndrom auf die Welt kommen. Und tatsächlich werden heutzutage immer noch (frühzeitige) Geschlechtsangleichungen vorgenommen. Diese Vorgehensweise geht auf die so genannte „Optimal Gender Policy“ der 1950er Jahre zurück, die von dem amerikanischen Psychologen Dr. John Money entwickelt wurde, der am John Hopkins Medical Centre in Baltimore forschte. Money ging bei seiner Forschung davon aus, dass eine schnellstmögliche operative Geschlechtszuweisung bei intersexuellen Neugeborenen die Problematik der Intersexualität vermeiden könne und 95 % der Betroffenen in ihre Rolle hineinwüchsen, die ihnen chirurgisch zugeschrieben würde.
In der Praxis selbst jedoch wird immer wieder die sehr willkürliche Handhabung des durchgeführten Behandlungsstandards deutlich, bei deren Vorgang sich in den meisten Fällen aus Gründen von optimalerer plastischer Genitalnachbildung für das weibliche Geschlecht entschieden wird (auch im Tatort wird durchgängig von „Patientinnen“ gesprochen). Hierbei sind diese in ihrem fortlaufenden Leben ständigen Qualen durch das ständige Bougieren ausgesetzt, bei deren Vorgang die Vagina mit Metallstäben gedehnt wird, um das Zuwachsen zu verhindern. Zudem lässt sich eine lebenslange Hormontherapie nicht umgehen. Beweisen zum Trotz, die die Theorie stützen, dass der soziale Einfluss auch tatsächlich die Geschlechtsidentität bestimme, wurden die chirurgischen Genitaleingriffe bei Kleinkindern seit den 1970er Jahren auf regulärer Basis durchgeführt und das, obwohl es sich bei Intersexualität nicht um eine Krankheit handelt, die einen medizinischen Eingriff erforderlich macht.
In der Realität (wie auch im Tatort beschrieben) wird diese chirurgische Angleichung jedoch von vielen Betroffenen selbst als „Zwangskastration“ empfunden. Intersexuelle Menschen, die diesem Leid ausgesetzt wurden, sprechen von einem oft beschriebenen Unwissenheitsgefühl, das oft schwere Traumatisierung mit sich führt. Denn den Eltern wird nach dem chirurgischen Eingriff Stillschweigen gegenüber dem Kind nahe gelegt, um eine möglichst normale Entwicklung des Kindes nicht zu gefährden. Diese Tabuisierung, die Unwissenheit und zudem die Ablehnung der Eltern führen zu einer stark erhöhten Selbstmordrate bei Personen, die einer Geschlechtsangleichung unterlagen (auch im Tatort so dargestellt).
Und trotz immer lauter werdender Stimmen, die sich gegen geschlechtsangleichende Operationen bei intersexuellen Kleinkindern aussprechen, die medizinisch gesehen nicht notwendig sind, stehen die chirurgischen Eingriffe, die die Zugehörigkeit des Kindes zu nur einem Geschlecht gewährleisten sollen, auf der medizinischen Tagesordnung. Eine Normierung auf Kosten der Betroffenen, die nicht einmal die Möglichkeit bekommen, über ihren eigenen Körper zu bestimmen, nur um einem von der Gesellschaft vorgeschriebenen Bild zu entsprechen, das nur zwei Geschlechtskategorien, nämlich weiblich und männlich, vorsieht. Dabei werden den Betroffenen deren Identitäten abgesprochen und eine neue, zu nur einem Geschlecht eindeutig gehörende durch chirurgische Eingriffe aufgezwungen, die ihnen dann im schlimmsten Fall nicht einmal entspricht.
Ein bitteres Zeugnis, und das, obwohl schon seit einiger Zeit widerlegt wurde, dass die Erziehung nicht maßgeblich entscheidend für die Ausbildung der jeweiligen Geschlechtsidentität ist. Um schließlich eine Änderung der frühzeitigen Behandlungspraxis bei Intersexuellen zu bewirken, die bisher viel Leid der Betroffenen verursachte, muss sich dem Thema der Intersexualität endlich geöffnet und aktiv in den Medien darüber berichtet werden (hiermit spreche ich dem Tatort schon mal ein Lob aus), um der bis dato bestehenden Tabuisierung des Themas endlich ein Ende zu setzen. Lehrbücher (u. a. der Biologie) müssten umgeschrieben werden, um schon den Kleinsten der Gesellschaft das Thema der Intersexualität näher zu bringen, in den Lehrplan zu integrieren und darüber Aufklärung zu geben, dass die Existenz von nur zwei Geschlechtern (nämlich weiblich und männlich) nicht der Realität entspricht. Auch medizinische Bücher müssten geändert werden, um von den chirurgischen Genitalangleichungen abzuraten und eine bessere Aufklärung der Eltern von intersexuellen Kindern zu gewährleisten und Ängste diesbezüglich zu mindern. Dabei muss auf die Ausbildung von mehr geschultem Experten-Personal gesetzt werden, das psychologische Stütze und Wissen bezüglich des Themas bietet.
Nur so kann auch gewährleistet werden, dass sich Eltern intersexueller Kinder nicht gedrängt fühlen, sich unüberlegter und verfrühter Eingriffe hinzugeben, ohne ihrem Kind die Möglichkeit zu geben, eine natürliche Geschlechtsidentität zu entwickeln, welche ihm/ihr auch wirklich entspricht, sei dies nun männlich, weiblich, oder weder noch (es gibt selbstverständlich intersexuelle Menschen, die sich als weder weiblich noch männlich verstehen). Auf eine Eintragung des Geschlechts in die Geburtsurkunde müsste zudem im Fall der Geburt eines intersexuellen Kindes zunächst verzichtet werden, oder eine spätere Änderung bei Intersexuellen vereinfacht werden. Zudem sollte auf Wunsch die Möglichkeit auf die Eintragung Zwitter oder „-“ bestehen, um jeder intersexuellen Person seine/ihre gewünschte Identität zu ermöglichen. Zudem müssen alle Betroffenen selbst altersgerecht und vollständig über ihre Intersexualität aufgeklärt werden. Auch die Rechtslage müsste sich ändern, um Menschen, die sich dafür entscheiden als Hermaphrodit zu leben, Rechte zuzusprechen. Viele Punkte, die von der Politik endlich in die Hand genommen werden müssen, um eine Änderung in der Behandlungspraxis der Intersexualität zu bewirken.
Franzine