Der Ballettsaal – ein Ort, an dem tüllige Kleinmädchen-Träume auf die unschöne Realität von blutigen Zehennägeln und müffelnden Tanzlatschen prallen. tAMtAM hat sich mit Zora Reinhard* getroffen, einer Veteranin der staatlichen Ballett-Akademie in Mannheim. Ein Biografie-Gespräch.

*Name geändert

I. „Ich habe immer nur dafür gekämpft“

tAMtAM berlin: Warum wolltest du tanzen?

Zora Reinhard: Das wollte ich schon immer. Mit sechs hatte ich meine erste Ballettstunde, eine Freundin hat mich mitgenommen. Nach der Stunde bin ich zur Lehrerin gegangen, hab ihr am Rock gezogen und gesagt: „Damit das klar ist – ich werde Tänzerin.“ Für mich war klar: Das ist das, was ich will.

tAMtAM berlin: Was haben deine Eltern dazu gesagt?

Zora Reinhard: Die fanden das ganz schlimm und waren total dagegen.

tAMtAM berlin: Aber sie haben es dir trotzdem finanziert?

Zora Reinhard: Nur das erste Jahr. Dann wollte meine Freundin aufhören, die wollte lieber reiten. Ich komme aus einem ganz kleinen Dorf und die Anfahrt wurde zum Problem, denn man fährt mit dem Auto eine Stunde in die Stadt. Meine Eltern haben gesagt, ich solle aufhören – wollte ich aber nicht. Ich war etwa sieben oder acht, als ich anfing, mit dem Fahrrad in die nächste kleine Stadt und von dort mit dem Bus weiterzufahren, weiter mit der Straßenbahn und schließlich noch zu Fuß zur Ballettschule. Ich habe Zeitungen ausgetragen, um mir das zu finanzieren. Meine Lehrerin hat mich gefördert, sie wusste, dass meine Eltern nicht dafür sind und ist mir preislich entgegen gekommen.

tAMtAM berlin: Du hast also früh dafür gekämpft.

Zora Reinhard: Ich habe immer nur dafür gekämpft.

tAMtAM berlin: Was hat dich so fasziniert?

Zora Reinhard: Ich glaube, dieses Wissen, mich körperlich ausdrücken zu können. Und diese Leidenschaft dabei.

tAMtAM berlin: Hast du am Anfang bereits Grenzen deines eigenen Körpers kennengelernt?

Zora Reinhard: Nein, in dem Alter gibt es ja keine Verletzungen. Und natürlich ist man in einer Laien-Ballettschule die Beste. Irgendwann entscheidet sich dann, ob man es packt. Als an der Ballett-Akademie in Mannheim Aufnahmeprüfungen waren, bin ich allein hingefahren. Da war ich 17.

tAMtAM berlin: Und dann bist du aufgenommen worden.

Zora Reinhard: Ja. Meine Eltern wussten nichts davon, die dachten, ich bewerbe mich für einen Studiengang in Sozialpädagogik. Ich hatte ihre Unterschriften für die Prüfung gefälscht, irgendwann musste ich es ihnen dann aber doch sagen.

tAMtAM berlin: Und wie haben sie reagiert?

Zora Reinhard: Es war nicht so lustig.

 

II. „Von vierzehn Frauen waren wir am Ende noch zwei.“

tAMtAM berlin: Was hattest du für eine Vorstellung von einem Ballett-Studium?

Zora Reinhard: Na, den ganzen Tag tanzen und trainieren.

tAMtAM berlin: Und was war dann anders?

Zora Reinhard: Die Stundenzahl – von morgens um 9 bis abends um 6. Vorher hatte ich anderthalb Stunden Training am Tag.

tAMtAM berlin: Ist dir das schwer gefallen?

Zora Reinhard: Das kam drauf an. Die klassischen Fächer sind mir nie sonderlich leicht gefallen, weil ich von meiner Anatomie her nicht der „klassische Typ“ bin.

tAMtAM berlin: Was bedeutet „klassisch“ in dem Kontext?

Zora Reinhard: Ganz bestimmte körperliche Voraussetzungen zu haben. Bestimmte Proportionen, eine bestimmte Arm- und Halslänge zum Beispiel. Aber auch immer den Mund zu halten, immer schön zu lächeln. Und ich habe eigentlich immer meinen Mund aufgemacht. Das geht gar nicht.

tAMtAM berlin: Diese Dinge, die du beschreibst, beziehen sich sowohl auf Äußerlichkeiten als auch auf ein bestimmtes Verhalten. Wurde das gleichermaßen von Frauen wie von Männern erwartet?

Zora Reinhard: Nein, das galt nur für Frauen. Die Männer wurden ganz anders behandelt – wie Erwachsene. Die Frauen waren immer „Mädchen“, wurden dumm und klein gehalten. Das liegt daran, dass die Männer durchschnittlich viel älter sind, wenn sie zum Studium kommen. Ich war mit 18 eine der ältesten, die Männer waren alle 21, 22. Die Lehrer haben es sich nicht erlauben können, mit denen so zu sprechen wie mit uns. Die Männer konnten sich viel mehr herausnehmen, weil die Konkurrenz unter den Frauen größer war. Es gibt einfach viel mehr Frauen im klassischen Ballett. Aber man braucht Männer, sonst kann man keinen Pas-de-Deux-Unterricht machen. Die Akademie musste die Männer also eher halten, während bei den Frauen hunderte auf der Matte standen. Das ist auch später bei Auditions so.

tAMtAM berlin: Also hast du wahrscheinlich viele Lehrerinnen gehabt.

Zora Reinhard: Die haben dieses Verhalten eins zu eins fortgeführt. Das ist eben dieser Hammer, der sich da immer wieder abspielt. Die Frauen erfahren das in ihrer Ausbildung, sie werden niedergemacht und geben das weiter, ohne zu reflektieren.

tAMtAM berlin: Was haben die denn konkret getan?

Zora Reinhard: Angefangen damit, dass im Training irgendwer auf dich drauf springt, um dich tiefer zu drücken und du dadurch eine fette Zerrung bekommst, bis hin zu psychologischen Spielchen, diesem ständigen Unter-Druck-Setzen: Wenn du das und das nicht tust, passiert dieses und jenes.

tAMtAM berlin: Mit was wurde da gedroht?

Zora Reinhard: Exmatrikulation. Das wurde auch gemacht und hatte ganz viel mit Körpergewicht zu tun. Von vierzehn Frauen waren wir am Ende noch zwei. Und ich würde sagen, von den vierzehn sind vielleicht zwei oder drei wegen Verletzungen ausgeschieden, die anderen sind einfach durchgeknallt. Die waren bulimisch oder hatten Magersucht.

tAMtAM berlin: Wie haben die Lehrer darauf reagiert, wenn Leute aus solchen Gründen ausgefallen sind?

Zora Reinhard: Sie haben nichts dazu gesagt. Wir wurden auf die Waage gestellt, das wurde in einer Liste aufgeschrieben und die kam ins Direktorium. Dann kam eine Meldung, wie viel man innerhalb welcher Zeit abnehmen muss und ein Termin wurde gesetzt.
Und an diesem Datum kam wieder die Waage, man wurde drauf gestellt, es wurde verglichen. Und am nächsten Tag sind die Leute nicht wiedergekommen, weil die vielleicht ein halbes Kilo zu viel hatten.

tAMtAM berlin: Hast du heute eine Waage zu Hause?

Zora Reinhard: Ich habe eine Waage, aber sie steht hinter der Waschmaschine, ohne Batterien. (lacht)

tAMtAM berlin: Du hast diese Ausbildung über drei Jahre durchgezogen, obwohl du wahrscheinlich schnell gemerkt hast, dass es anders läuft, als du es dir vorgestellt hattest.

Zora Reinhard: Ich dachte eigentlich immer, dass das so gehört. Ich kannte ja auch nichts anderes und es war irgendwie normal. Da ging es nur ums blanke Überleben. Mir wurde auch immer gesagt, dass ich nie tanzen werde, dass ich es nicht schaffen würde. Aber bei meinem Abschluss war gerade Maueröffnung, viele Stellen im Osten waren unbesetzt. Ich konnte für eine Spielzeit ans Theater nach Erfurt gehen.

tAMtAM berlin: Das war eigentlich die Situation, von der du immer geträumt hattest.

Zora Reinhard: Stimmt, ich habe mir mit dem Tanzen meinen Lebensunterhalt verdient. Aber dann ging es sofort wieder los: Wenn du nicht abnimmst, darfst du diese und jene Vorstellung nicht tanzen.

tAMtAM berlin: Was hast du danach gemacht?

Zora Reinhard: Dann war klar, entweder ich höre auf zu tanzen oder ich muss etwas finden, was mir mehr entspricht. Ich habe bei einem freien Tanztheater in Hamburg vorgetanzt, wurde genommen und war dann drei Jahre dort in der Company. Das hat mir viel Spaß gemacht. Sehr viel Improvisation, Stücke selbst entwickeln.
Anschließend habe ich an verschiedenen Theatern in Deutschland und Österreich gearbeitet, allerdings immer in zeitgenössischen Projekten.

 

III. „… und dann bin ich sofort einkaufen gegangen.“

tAMtAM berlin: Wie war dein Verhältnis zu deinem eigenen Körper? Wie hast du das ausgehalten, dass dir ständig gesagt wurde, du seist nicht richtig so wie du bist?

Zora Reinhard: Das klafft auch heute noch total auseinander. Ich – als Privatperson – finde mich völlig okay. Aber ich als Tänzerin nicht. Im Beruflichen hat es also nie gestimmt.

tAMtAM berlin: Aber warum müssen alle so dünn sein?

Zora Reinhard: Ich glaube, das ist einfach ein Schönheitsideal. Eine Tänzerin im klassischen Sinne ist ein ätherisches Wesen, das jeder Körperlichkeit entsagt.

tAMtAM berlin: Aber Tanz ist doch total körperlich!

Zora Reinhard: Das ist ja gerade der Widerspruch. Aber das ist diese alte Schule: Du siehst im klassischen Tanz nie Frauen, du siehst immer nur Mädchen. Die haben keine Hüfte, die haben keinen Busen. Das ist einfach aus einem ganz anderen Jahrhundert.

tAMtAM berlin: Aber es setzt sich ja fort, in der Mode, in den Medien.

Zora Reinhard: Ich glaube, es liegt an einem selbst, ob man bei diesem Spiel mitspielt oder nicht.

tAMtAM berlin: Aber das ist nicht so einfach, wenn man 15 ist und alle um einen herum sagen, man sei moppelig. Deshalb ist es ja so verrückt, dass du da eigentlich relativ unbeschadet durchgekommen bist.

Zora Reinhard: Das finde ich auch verrückt so im Rückblick, ja.

tAMtAM berlin: Dein Schutzmechanismus war also, deinen Körper aufzusplitten in einen privaten und einen „Arbeits“-Körper?

Zora Reinhard: Ich hab mir immer gesagt: Ich komm vom Land, ich hab schon einiges mitgemacht, das packe ich jetzt auch. Wenn ich einen Termin hatte, war das eine klare Kiste – musste ich halt mal wieder eine neue Diät ausprobieren. Oder drei Wochen nichts essen oder nur Ananas. Ich bin da relativ emotionslos rangegangen. Und dann kam der Termin, ich hatte es mal wieder geschafft, knapp oder auch mal nicht so knapp, und danach bin ich sofort einkaufen gegangen und habe wieder normal gegessen. Aber das hat nicht jede so hinbekommen.

tAMtAM berlin: Ist das System denn immer noch so?

Zora Reinhard: Ja, daran hat sich nichts geändert.