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Das echte Niederbrechen ist eine 3000 Seelengemeinde in Hessen. Es gibt dort ein historisches Rathaus, in dem heute eine Sparkasse untergebracht ist, einen ehemaligen Gefangenenturm, eine Kirmes und ein modernes Sport- und Kulturzentrum. Die Häuser in Niederbrechen sind gepflegt, die Dorfgemeinschaft eingespielt.

In Sarah Diehls erstem Roman, Eskimo Limon 9, zieht Familie Allon aus Tel Aviv in genau dieses beschauliche Niederbrechen und in eines der gepflegten, frisch verputzten Reihenhäuschen. Die eigentlich entspannten DorbewohnerInnen versetzt dieser Zuzug dann doch in helle Aufregung. Ratlosigkeit darüber, wie man mit den Neuen umzugehen habe mischt sich mit gewissen Vorurteilen über Lebensstil und Kultur der jüdischen Familie. Und während diese eigentlich nur in Ruhe arbeiten und leben will, sind die Annäherungsversuche der DorfbewohnerInnenschaft von ziemlich reflexhafter Aufarbeitung des Dritten Reiches motiviert. So entsteht ein höchst komischer Reigen aus Missverständnissen, an dessen Ende die Gewissheit steht: Die Deutschen wissen zwar beinahe alles über den Holocaust aber nahezu nichts über das heutige Israel, seine BewohnerInnen und deren Gesellschaft und Kultur.

Die Berliner Autorin und Filmemacherin Sarah Diehl beschäftig sich in Eskimo Limon 9 mit der Frage, wie Erinnerungspolitik und Gedenkkultur im Alltag aussehen könnte, was sich erinnern überhaupt heißt und wie Menschen mit ihnen zugeschriebenen Identitäten leben bzw. diese schließlich überwinden.

Missy durfte anlässlich einer Lesung aus Eskimo Limon 9 am Montag, dem 5. November im Café Morgenrot ein Interview mit der Filmemacherin und Publizistin Sarah Diehl führen.

Missy: Sarah, du hast dich beruflich bisher ja eher mit Gender Themen und Reproduktionspolitik beschäftigt, hast ein Buch über Mädchen herausgegeben, deren Brüste in der Pubertät plötzlich explodieren, einen Dokumentarfilm über den politischen und gesellschaftlichen Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen in Polen und Südafrika gedreht und arbeitest ja auch gerade an einem Film namens Pregnant Journeys über die schwierige Situation schwangerer Frauen, die für eine Abtreibung lange Reisen auf sich nehmen. Und ganz nebenbei hast du nun auch deinen ersten Roman veröffentlicht. Der erzählt eine ganz andere Geschichte. Warum wolltest du die Geschichte der Familie Allon erzählen?

Sarah Diehl: In Deutschland besteht der Bezug zu „den Juden“ vor allem in der Gedenkkultur, also in einer eher abstrakten Auseinandersetzung mit Gedenksteinen und Mahnmalen. Ich hingegen wollte der Frage auf den Grund gehen, was passiert, wenn sich die Menschen tatsächlich in alltäglichen Situationen begegnen. Da gibt es noch keine Selbstverständlichkeit.

Ich habe in den letzten Jahren viele gute Bekanntschaften mit Israelis – bzw. Leuten mit jüdischem Hintergrund anderer Länder – in Berlin gemacht und war mit ihnen auch fünf Mal in Israel unterwegs. Aus diesen Begegnungen und Gesprächen entstanden die Geschichten des Romans.

Mit dem Roman wollte ich die Unsicherheiten und verschämten Nachfragen für eine ehrliche Auseinandersetzung mit dem Thema produktiv machen, anstatt diese schön zu reden. Man kann den Dingen eben nur auf dem Grund gehen, wenn man mit seiner eigenen Projektion und Unwissenheit ehrlich umgeht.

M: Wessen Geschichte erzählst du da?

SD: Die Charaktere in meinem Roman existieren so nicht, obwohl natürlich ein paar reale Personen Modell standen für bestimmte Geschichten oder Betrachtungen im Buch. Ich fand es aber interessanter, meine Erlebnisse aus der Grossstadt Berlin in ein Dorf umzusiedeln, deren Einwohner tatsächlich zum ersten Mal Menschen mit jüdischer Herkunft treffen. Dabei wollte ich das Dorf keineswegs als rückständig zeigen, aber dort konnte ich eine Geschichte ansiedeln, in der dieses Zusammentreffen tatsächlich zum ersten Mal geschieht und konnte bestimmte Probleme besser aufzeigen.

M: In dem Buch gibt es ja ein paar ganz haarsträubende Erlebnisse, die Familie Allon mit ihren neuen deutschen NachbarInnen machen. Fest steht, dass Deutschland sich immer noch schwer tut mit dem Umgang mit seiner Vergangenheit. Dieses eigentlich ernste Problem verarbeitest du auf sehr humoristische und oft schräge Weise in einer persönlichen Geschichte um eine Familie. Warum war es dir wichtig, diese Geschichte so und nicht anders zu erzählen?

SD: Ich habe wohl einen Hang zum Absurden und in der Absurdität der Menschen liegt die Wahrheit, die Erleichterung und die Bereitschaft zum Verständnis. Es geht viel darum, wie sich Menschen in den ihnen zugeschriebenen Identitäten gefangen fühlen, das Thema interessiert mich im Allgemeinen. Das ist wahrscheinlich auch der Zusammenhang mit meinen anderen Arbeiten zum Thema ungewollte Schwangerschaft – die Betrachtung, wie und wodurch Menschen in ihren Körpern gefangen sind.

M: Und die Familie aus deiner Geschichte ist gefangen in der von ihren deutschen NachbarInnen und DorfbewohnerInnen zugeschriebenen Identität als die JüdInnen?

SD: Genau.

M: Also ist Humor ein Allheilmittel und geeignetes Stilmittel, um eine Geschichte zu erzählen, in der die deutsche Vergangenheit eine Rolle spielt?

SD: Nein, Humor kann auch extrem konservativ und beengend sein, weil er „mit einem Augenzwinkern“ bestehende Machtstrukturen stärken will. Es gibt ja ganz klar antisemitischen, rassistischen und sexistischen Humor, der nur den Staus Quo bestätigt, in dem er ihn als harmlos und lustig darstellt, und der nichts hinterfragen will. Aber es gibt einen Humor, der die Verwirrung und die Unsicherheit der Menschen respektvoll anerkennt und wenn ich das in diesem Buch geschafft habe, dann bin ich glücklich.

M: Die Eis-am-Stiel-Filme, in Israel Eskimo Limon 9 genannt, spielen scheinbar eine so zentrale Rolle in deinem Buch, dass sie sogar namensgebend waren. Was haben denn diese nicht ganz so high quality mäßigen Teenie-Klamotten mit deinem Buch zu tun?

SD: Die Filme selbst spielen weniger eine Rolle, es geht vielmehr um ihre Verbindung zwischen deutscher und israelischer Popkultur. Eis am Stiel ist hier zwar bekannt, aber viele wissen nicht, dass die Filme aus Israel kommen. Mich fasziniert dabei eben, dass etwas aus der israelischen Alltagskultur in Deutschland bekannt ist, aber als solches nicht wahrgenommen wird. Statt dessen verharren Deutsche in ihren Projektionen über Israel auf den Holocaust und Nahost Konflikt. Sie sehen die Menschen nicht mit ihrer aktuellen und komplexen Lebensrealität. Und um diese Begegnung zwischen Menschen geht es im Buch.

M: Die Vergangenheit darf eben niemals vergessen werden und muss in den Köpfen der Menschen lebendig und gegenwärtig bleiben. Sicher gibt es aber Möglichkeiten, eine lebendigere, nicht allein auf Schuld und Pflichtbewusstsein wurzelnde Gedenkkultur in Deutschland zu gestalten. Wie sähe diese deiner Meinung aus?

SD: Ich finde es sehr wichtig, sich mit Schuld auseinanderzusetzen. Ich fühle mich schuldig, weil ich mit meinem deutschen Pass privilegierter bin als meine Freunde mit israelischem aber auch polnischem oder algerischem Pass und das ist ungerecht und absurd, aber ganz real profitiere ich davon. Für mich ist meine Schuldanerkennung ein Erkenntnisgewinn.

M: Wie meinst du das?

Ich meine, wir sollten unsere Schuld produktiv machen in der Auseinandersetzung mit den (durch ihre Familiengeschichten oder selbst) betroffenen Menschen. Viele Deutsche gehen mit Schuld aber als etwas um, wogegen man sich wehren muss, und diese Abwehrmechanismen produzieren wieder Antisemitismus, gerade weil die deutsche Gedenkkultur sich mehr mit Steinen als mit Menschen auseinandersetzt, mehr mit Symbolik als mit einer realen Begegnung. Dazu kommt noch die Frage, was uns diese deutsche Gedenkkultur nutzt, wenn wir angesichts unserer Abschottungspolitik und polizeilichen und bürokratischen Gewalt gegen von uns illegalisierte Menschen anscheinend nichts aus der Geschichte gelernt haben? Sie nutzt vor allem den Deutschen, die sich als geläutert und „humanitär korrekt“ darstellen wollen, während sie weiter von Strukturen globaler Ungerechtigkeit profitieren.

M: Wirst du dich also weiter mit diesem wichtigen Thema beschäftigen?

SD: Wenn Eskimo Limon 9 darum geht, dass imaginäre Verhältnis zwischen Juden und Deutschen zu betrachten, geht mein nächster Roman um eben dieses imaginäre Verhältnis zwischen Europäern und Afrikanern. Eben diese Frage, was haben die Deutschen eigentlich aus der Geschichte im Umgang mit „den Anderen“ gelernt, wird dabei aufgegriffen. Ich bin derzeit viel in afrikanischen Ländern unterwegs, Uganda, Nigeria, Namibia und Kongo, ich lebe dort jeweils für einen Monat, um für meinen Roman und zum Thema Schwangerschaftsabbruch zu recherchieren. Mein nächster Dokumentarfilm geht ja darum, wie Frauen sich in der Illegalität helfen, sichere Abtreibungen zu organisieren.

 

Wo & Wann

Café Morgenrot

05. November 2012, 20 Uhr

Kastanienallee 85

Berlin

Eintritt frei!