Von Rumpelstilzchen

Ich bin süchtig nach Märchen. So lese ich beinahe alles, was es in diesem Genre zu entdecken gibt, von den Märchen der Gebrüder Grimm über jene aus Tausend und einer Nacht bis hin zu den kunstvoll-ironischen Märchen der deutschen Romantiker aus dem 19. Jahrhundert.

Ich verschlinge türkische, Schweizer und russische Märchen und überhaupt jegliche Literatur aller Epochen und Kulturen, die sich mit dem Wunderbaren auseinandersetzt. Diese ausgeprägte Begeisterung für Zaubergeschichten und Feenerzählungen kann unter anderem auf einen übermässigen Märchengenuss in frühster Kindheit zurückgeführt werden. Bereits in jungen Jahren wurden mir fantastische Erzählungen  in rauen Mengen zu Gemüte geführt, zuerst durch Vorlesen, dann durch das schnell erlernte eigenständige Lesen fabelhafter Geschichten. Der moralische Aspekt der Märchen schien mir dabei stets nebensächlich zu sein. Viel spannender als die Tatsache, dass die böse Hexe am Schluss verbrannt wird, war für mich das Bild des lecker duftenden Lebkuchenhäuschens im Walde. Bei Rotkäppchen interessierte mich vor allem der sprechende Wolf und die Vorstellung, dieses struppige Tier in den rüschenbedeckten Kleidern der Grossmutter zu sehen. Mich faszinierten die gruseligen Gestalten, die magischen Reiche unter der Erde voller kurioser Wesen, die Zauberschlösser in den Wolken.

Dabei blieben die Märchen in meiner Kindheit nicht in den Büchern. Ich trug sie mit in meine Alltagswelt, meine Wirklichkeit, die in Folge der Lektüre kontinuierlich durch verzauberte Orte und Figuren erweitert wurde. So küsste ich als Kind jahrelang nicht nur Frösche, sondern auch hingebungsvoll Kröten und Kriechtiere jeglicher Art, bis hin zu den zugegebenermaßen nicht sehr attraktiven Nacktschnecken. Ich baute etliche kleine Wurzelhäuschen mit Moosgärten für die schüchternen Zwerginnen und Zwerge, die ich in den verwunschenen Ecken des Waldes zu erkennen glaubte. Auch erhielten die leider nur sehr langsam wachsenden Bohnenranken im Garten meiner Großeltern eine besondere Bedeutung, da ich sie stets mit der Hoffnung betrachtete, sie eines Tages bis hoch in den Himmel schießen zu sehen. Wenn dieser Moment gekommen war, wollte ich furchtlos an ihnen emporsteigen, um glorreich die Gans zu ergattern, die goldene Eier legt und mich für immer reich machen würde.

Natürlich ging der Märchenzauber meiner Kindheit mit der Zeit verloren. Geblieben sind jedoch die Märchenbücher und literarischen Zauberwerke, die ich immer noch mit großem Eifer und Genuss lese. Dabei konstruieren fantastische Erzählungen nicht nur eine Welt für sich, in die wir eintauchen und uns von der Realität entgrenzen können. Vielmehr bilden sie stets eine weitere Version der Wirklichkeit ab, die die Realität fantasievoll repräsentiert und reflektiert. Märchen helfen uns dabei, über die Wirklichkeit hinaus zu denken und die reale Welt nach einem Ausflug ins Zauberreich mit frischer Fantasie und neuen Ideen so umzugestalten,  dass wir wunderbar in ihr leben können, bis ans Ende unserer Tage.