Schauspielkunst unter Extrembedingungen: Wrestling ist wieder populär und zieht auch in Berlin ein abenteuerlustiges Publikum an. Es ist ein hartes Business, in dem Frauen doppelt kämpfen.
Von Xymna Engel

Blue Nikita (links) und Carmel Jacobs (rechts) am Boden. (Foto: Max Krause)

Wie zwei Löwinnen umkreisen sie sich: The Daredevil Blue Nikita und Carmel Jacobs. „Let’s go Niki!“ Die Sitzbänke erbeben in Schlachtrufen, der Bretterboden im Ring ächzt. Blicke als Waffen, entsichert. Nikita durchbricht die Stille mit einem tiefen Schrei. Ihr dunkelblaues Kostüm glitzert im Scheinwerferlicht. Sie packt die Engländerin Carmel zwischen den Oberschenkeln und hievt sie hoch. Carmel zappelt pathetisch mit den Beinen und kneift ihre ausufernd türkis geschminkten Augen zusammen, als sie mit einem dumpfen Schlag auf den Rücken geschmettert wird. „Let’s go Niki!“ Doch Carmel ist blitzschnell wieder bereit, rammt ihre Schulter in Nikitas Bauchnabelpiercing und drängt sie an einen mit schwarzem Gummi überzogenen Pfosten.

„Ich gehe raus mit dem Gedanken, dass ich unbesiegbar bin.“ Angst hat Nikita (31) nur vor einem: wenn die Reaktion vom Publikum ausbleibt. Der dunkle Teint und die dichten, schwarzen Haare, die sie bei Kämpfen gerne durch die Luft sausen lässt, verweisen auf ihre griechischen Wurzeln. Sie hat eine sichere Stimme; sie weiß, was sie will. Sie ist keine Diva. So werden Wrestlerinnen bei der WWE genannt, der weltberühmten Amerikanischen Wrestling Liga, wo Fake Programm und Frauen sexy Pausenhäppchen sind. Nicoletta Iosifidou trainiert seit 14 Jahren bei der German Wrestling Federation (GWF) in Berlin. Hier ist sie Blue Nikita, ihr Gimmick. Auch im Training, wo japanische („KampfKampfKampf“), amerikanische („ShowShowShow“) und mexikanische Wrestling-Stile vermischt werden. „Bei uns sind die Kämpfe echt. Man braucht immer einen gewissen Unterhaltungswert, aber es gibt keine Choreografie oder so.“

Und trotzdem blitzen letzte Zweifel bei den ZuschauerInnen immer wieder auf, eine schwankende Illusion, die den Reiz am Wrestling ausmacht. Auf YouTube kursiert ein vielzitiertes Video, in dem ein Fan unter Tränen ruft: „It’s still real to me, dammit!“ Auf dem Weg vom Ostbahnhof zum Zirkuszelt „Shake“ werben Crazy Sexy Mike, Pascal Spalter und Tarkan Aslan auf Plakaten an einer morschen Bretterwand mit bärenstarken Gesten für die 13. Berlin Wrestling Night. Die findet monatlich statt und war in letzter Zeit immer ausverkauft. In dieser Nacht werden im „Shake“ Extrabänke aufgestellt. Doch nicht nur Alltags-Hulk-Holgans, sondern auch Männer mit Rastas, Frauen mit bunten Federn, Kinder mit bemalten Gesichtern und experimentierfreudige StudentInnen nehmen darauf Platz. Überspitzte Charaktere und großspurige Gesten im Ring – da ist auch übertriebenes Fansein erlaubt. Man kann Wrestling geil finden, ohne es gut zu finden.

Sicher ist es auch die Rückbesinnung auf die amerikanische Popkultur der 80er und 90er Jahre, die populärste Zeit des Wrestling. Wrestling war nie tot, aber zumindest ganz schön out. Wie Pamela Anderson oder Knight Rider. Heute haben sie Kultstatus. In Deutschland werden im Moment immer mehr neue Vereine und Ligen gegründet. Vor allem in Mexiko boomt Wrestling. Auch Frauenwrestling ist dort viel verbreiteter als in Europa. In den bunten Lucha Libre Masken erkämpfen sich viele Frauen einen Nebenverdienst und Selbstbewusstsein. Das große Geld holen sich jedoch nach wie vor die Männer.

Schon als kleines Kind hat Nikita im Fernsehen die großen Wrestler bewundert und ihre Leidenschaft entdeckt. „Ich wollte auch im Ring stehen und das Publikum um mich rum haben.“ Ihre Eltern haben ihren Traum am Anfang nicht unterstützt, es gab oft Streit. „Meine Mutter hat mir mal gesagt, dass sie Angst hat, dass ich im Rollstuhl lande. Mittlerweile haben sich meine Eltern aber damit angefreundet.“ Nikita kann heute vom Wrestling leben.

Der Boden im Ring ist wirklich hart. Zwei Jungs haben ihn vor Showbeginn mit kleinen Fäusten getestet. Unter den über 350 BesucherInnen an diesen Abend sind viele Kinder. Verstehen sie, dass Wrestling mehr Spiel als Ernst sein soll? „Pass auf, hinter dir,“ schreit ein kleiner Junge mitten in einem Kampf. Wie verarbeiten sie die teilweise grenzwertigen Zwischenrufe aus dem Publikum, wie „Ich will Blut sehen“ oder „Hau ihr die Schminke aus dem Gesicht!“? Die Gimmicks sind Projektionsflächen für gemeine Chefs, gute FreundInnen oder hinterhältige FeindInnen. Emotionale Extreme als Mitmach-Spektakel. Irgendwo zwischen Performance und Massenunterhaltung geht es um gut oder böse, stark oder schwach. Hinter den Kulissen aber können Schwächen zu Stärken werden.

„Wir sind hier im Moment 30 Leute und jeder hat eine andere Persönlichkeit, wir versuchen aus jedem das Besondere raus zu holen,“ erzählt Nikitas Manager Crazy Sexy Mike vor dem Training, das in einer Turnhalle in Neukölln stattfindet. Er trägt eine Kopfbedeckung aus elastischem Stoff und Vans mit Totenköpfen. Einer der beliebtesten Wrestler der GWF ist Matze Danger. Im Training ist er ein zarter, schmächtiger Junge. Im Ring ist er der David gegen Goliath, schwingt bedrohlich seine hüftlangen Haare, fährt mit einem Lowbike in die Arena, wird angefeuert – ein Held. Nikita überlegt schnaufend, wenn sie nach dem Unterschied zwischen sich und ihrem Gimmick gefragt wird. „Im Ring wirke ich sehr arrogant, das bin ich nicht.“

Ob Boxen, Kung-Fu oder Wrestling – inszenierte Gewalt lockt die Menschen. Warum? Es geht um urmenschliche Neigungen und emotionale Extreme. Es geht um das Ausloten der körperlichen Belastbarkeit. Nikita kann sich mit einem Kick aus Carmels Griff befreien, greift sie am linken Arm, dreht ihre Hand um. Carmel verzieht das Gesicht, Nikita schreit gewinnsicher. „Im Ring selber hatte ich teilweise so viel Adrenalin, ich habe mir mal das Knie zwei mal verdreht und bis zum Schluss weiter gekämpft. Wenn ich etwas anfange, ziehe ich das durch“.

Keiner hat sein erstes Training bei der GWF überstanden, ohne sich zu übergeben. Auch für Frauen gibt es nicht weniger Turbo-Rumpfbeugen, Bodyslams oder Backbraker. Das ist sicher ein Grund, warum es so wenig Wrestlerinnen gibt. Bei der GWF sind es im Moment zwei. Auch wenn Frauen hier gleich behandelt werden wie Männer, „es war harte Arbeit, den Respekt von den anderen Wrestlern für Nikita zu bekommen“, erinnert sich Mike. Das Publikum mag Frauenmatches, zu viele sollen es dann aber doch bitte nicht sein. Auch mit frauenfeindlichen Publikumsrufen muss Nikita klarkommen. Für Nikita ist die GWF wie eine zweite Familie, eine feste Kette: „Ich habe viele große Brüder – und eine Schwester“. Es gibt viele verschiedene Religionen in dieser Familie, die Wrestler kommen aus Deutschland, Jugoslawien oder der Türkei. Mike, mit bürgerlichem Namen Hussein Chair, ist Moslem: „Mich hat der Islam dazu gebracht, mehr auf Menschen einzugehen. Als Trainer war es wichtig, mich mit den verschiedenen Religionen auszukennen, damit es in der Gruppe funktioniert“. Im Ring geht es um Arroganz und Feindschaft – Backstage um Toleranz und Freundschaft.

„Drei!-Zwei!-Zwei!—Zwei!–Eins!—Null!“ – Submission. Nikita hat sich eine halbe Sekunde zu lange auf den Boden drücken lassen und hat verloren. Während Carmel mit dem Ladies-Title-Gürtel prahlt, ist Nikita die Enttäuschung anzusehen. Doch bald wird sie wieder im Ring stehen. „Ich kann keine Ruhe vertragen, sonst werde ich verrückt.“ Dass sie mit vollem Körpereinsatz für ihre Träume kämpft, hat sie zu einer der besten Wrestlerinnen Europas gemacht. Obwohl sich Wrestling oft dem Vorwurf der Gewaltverherrlichung stellen muss, gibt es doch kaum eine andere Sportart, in der Haß und Freundschaft so nahe beieinander liegen.

The Daredevil Blue Nikita kämpft das nächste Mal am 01. Juni zur 17. Berlin Wrestling Night im „shake“- Zelt am Ostbahnhof (Am Postbahnhof 1, 10243 Berlin).