Team Märchentanten: Haben Märchen ein subversives Potential?
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Nachdem ich im letzten Beitrag die Geschichte des modernen Aschenputtels erzählt habe, möchte ich heute in einem kurzen Essay die Frage diskutieren, ob Märchen ein subversives Potential haben oder bloß bestehende Geschlechterrollen zementieren. Ich hoffe, euch so auf eine spannende intellektuelle Reise durch die Märchenwelten von damals und heute mitnehmen zu können.
Wir alle kennen die Geschichten vom heldenhaften Prinzen, der die eingesperrte oder schlafende Prinzessin rettet, von der bösen Hexe, von dem naiven Rotkäppchen, das einem bösen Wolf auf den Leim geht und natürlich von den heldenhaften Rittern, die unerschrocken gegen riesige, feuerspeiende Drachen kämpfen und dabei nur allzu oft umkommen. Doch was erzählen uns diese meist Jahrhunderte alten, häufig veränderten Texte über unsere Gesellschaft? Märchen und Fabeln, wie sie von den Gebrüdern Grimm oder von Jean-Jacques Perreault niedergeschrieben worden sind, wurden nicht von dessen bekannten Persönlichkeiten erfunden, sondern sind in den meisten Fällen alte Volksgeschichten und -legenden, die von den Autoren zusammengetragen und gesammelt wurden. Dementsprechend gibt es auch verschiedene Varianten davon und so wird zum Beispiel Rotkäppchen bei Perreault, der noch näher an den meist viel brutaleren Originalgeschichten liegt, vom Wolf aufgefressen und danach nicht gerettet.
Doch was hat das jetzt mit Geschlecht zu tun? Ganz einfach, wie jedes Erzeugnis einer bestimmten Epoche spiegeln Märchen auch die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Zeit wider und da sie einer ständigen Veränderung unterliegen, können sich ihre Aussagen ebenfalls wandeln. Man denke bloß an Zeichentrick- und Animationsfilme, von den alten Disney-Streifen bis hin zur modernen Parodie „Shrek“. Aber Märchen spiegeln nicht nur wider, wie die Gesellschaft etwas (in unserem Fall Geschlechterrollen) zu einer bestimmten Zeit sah oder sieht, sondern wie alle populärkulturellen Produkte helfen sie gleichzeitig auch dabei, unser Verständnis von Geschlecht zu formen, uns zu bestätigen oder zu Selbstzweifeln zu veranlassen.
Ohne Märchen, die von Generation zu Generation weitergereicht werden, gäbe es wohl keine Mädchen, die Prinzessinnen sein wollten und keine Jungen, die als tapfere Ritter gegen den bösen Drachen antreten. Bei den klassischen Märchen, die im deutschen Sprachraum vor allem als Grimm-Märchen bekannt sind, erkennen wir sehr rasch, dass die Geschlechterrollen der ProtagonistInnen sehr stereotyp verteilt sind, entsprechend der Zeit, aus der sie stammen. Die Prinzessin ist schön und braucht die Hilfe des Prinzen, die unabhängige Frau ist eine böse Hexe, die Männer müssen kämpfen und in der Schlacht fallen, was auch nicht unbedingt Aussichten auf eine gute Karriere sind. Es gibt aber einzelne Elemente, in denen die Rollen von aktiven und passiven Charakteren vertauscht sind, beispielsweise, wenn die Prinzessin einen Frosch küssen muss, damit er sich in einen Prinzen verwandelt. Aber auch da geht sie nicht mit der Waffe in der Hand kämpfen, sondern muss etwas tun, das ihrer angestammten Geschlechterrolle entspricht.
Machen also Märchen unsere Kinder glauben, dass sie genauso sein müssen wie die Prinzessin oder der edle Ritter? Ich denke, wenn wir auf unserem nächsten Stadtspaziergang einen Abstecher in einen großen Spielwarenladen machen und uns dort etwas umsehen, werden wir mit größter Überzeugung sagen können, dass dem so ist. Für die Mädchen gibt es Unmengen an Prinzessinnen-Kleidchen, Diademe und Glasperlen, für die Jungs Plastikschwerter und Helme. Aber das ist nicht die ganze Geschichte, denn auch wenn alles danach aussieht, als ob sich nichts verändert hat, so sehen wir doch auch heute, dass es zumindest für die Mädchen in einem gewissen Rahmen möglich ist, auf ein größeres soziales Spektrum an Rollenbildern zurückzugreifen.
Können Märchen auch ein subversives Potential haben, können sie alte Geschlechterbilder untergraben und in Frage stellen? Um dies beantworten zu können, müssen wir erst einmal zwischen Kindern und Erwachsenen unterscheiden, die Geschichten auf verschiedene Arten verstehen und interpretieren werden. Ein gutes Beispiel dafür sind die eingangs erwähnten „Shrek“-Filme, die auf dem großen Fundus aus Märchen aufbauen, der im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaft gut verankert ist und so jederzeit zitiert werden kann, ohne dass dabei viele Erklärungen vonnöten sind. Während Erwachsene diese Geschichte mit ihren (Kindheits-)Erinnerungen an Märchen als postmoderne Parodie verstehen werden, die mit unseren Erwartungen spielt und sie auf die Schippe nimmt, werden Kinder, die noch kaum Märchen kennen, das Ganze als eine unterhaltsame Geschichte sehen, nichts mehr und nichts weniger.Doch auch hier, bei den modernen Variationen von Märchen, ist die Prinzessin immer noch die junge Frau, die vom Ritter gerettet werden muss oder will, auch wenn sie vielleicht die eine oder andere Kampfsportart beherrschen mag.
Normalerweise haben Märchen auch eine Moral, eine peppige Aussage am Ende, die sie zu einer Art Lehrstück macht, das den Kindern etwas beibringen soll, sei es nun, dass verkleidetete Wölfe keine Großmütter sind oder dass am Ende das Gute immer gewinnt, weil ein gläserner Schuh an den Fuß passt. Die Lehren, die aus den alten Geschichten gezogen werden können, sind aber in den meisten Fällen nicht besonders subversiv, sondern sehr einfach und manchmal auch alles andere als zeitgemäß.
Darum wollen wir jetzt hier die Möglichkeiten ansehen, die uns die alten Märchenstoffe bieten, um sie umzudeuten, so dass eine andere Geschichte erzählt werden kann, die modernere Werte vermittelt. Vielleicht vermag uns ein verändertes Märchen als Lesende so zu verwirren, dass wir am Ende von selbst darauf kommen, uns die Frage zu stellen, welche Werte uns die ursprüngliche Geschichte eigentlich vermittelt hat. Es gibt unzählige Möglichkeiten, wie alte Fabeln und Parabeln zu zeitgenössischen Märchen umgedeutet werden können, einen Versuch habe ich auf diesem Blog bereits mit der Märchen-Parodie „Aschenputtel im Schuhgeschäft“ gewagt, in der Cinderella (der englische Name für Aschenputtel) eine unpopuläre Studentin an einem amerikanischen College ist. Ich möchte jetzt an dieser Stelle meine Aschenputtel-Geschichte nochmals kurz aufgreifen, um einige Grundideen davon zu erläutern, was ich unter dem subversiven Potential von Märchen verstehe. Ein einfaches Mittel, das uns LeserInnen garantiert dazu bringt, Vergleiche mit unserem heutigen Leben und Erleben zu ziehen, ist, die Handlung eines Märchens in unserer Zeit anzusiedeln. So können Werte leicht bewusst gemacht werden und man kommt rasch dazu, sich zu fragen, ob denn nun unser heutiges Leben noch immer von den dargestellten (geschlechter-)stereotypen Verhaltensweisen geprägt ist. Früher war Aschenputtel die unscheinbare, heute würde man sie als „Nerd“ bezeichnen. Nach diesem Muster kann man fortfahren und es auf alle Elemente einer Erzählung anwenden, ganz wie es einer beliebt und nach ebendiesem Muster funktionieren sehr viele Parodien. Wie bereits erwähnt benötigt ein Märchen aber auch eine Moral, einen prägnanten Schlusssatz, der die Hauptaussage der Geschichte auf einen Nenner bringt. Und wird jetzt Aschenputtel modern, so kann sie sich durchaus auch dafür entscheiden, dass sie keine Prinzessin sein will und dazu keine schönen Schuhe braucht, dafür aber eine gute Freundin findet und an einer angesehenen Universität studiert. Veränderte Umstände führen zu einem anderen Schluss und obwohl zu Beginn noch alle LeserInnen die Anspielungen verstanden haben, so endet die Geschichte nicht so, wie sie es erwarten würden.
Ein solcher Bruch mit Erwartungen wirft die Frage auf, wieso sich das Ende vom Original unterscheidet, wieso sich die Protagonistin so entschieden hat und nicht anders. Es ist offensichtlich, dass sie andere Werte hat und andere Ziele verfolgt, sie will sich ihren Respekt selbst verdienen. Mit diesen Mitteln lässt sich sehr rasch ein Märchen so umschreiben, dass es zeitgemäß ist und, je nach Wunsch direkt oder auf subtile Weise, andere Rollenbilder vermittelt und gleichzeitig veraltete Ideale in Frage stellt. Ich hoffe, dass mir dies mit meinem kleinen Experiment gelungen ist und auch euch bei der Lektüre die eine oder andere kleine Ungereimtheit aufgefallen ist.
Klassische Märchen an und für sich sind also in den wenigsten Fällen subversiv. Natürlich gibt es die eine oder andere Ausnahme, wo es AußenseiterInnen gelingt, es weit zu bringen, doch trotzdem müssen sie sich dazu in bestehende Strukturen einzugliedern. Trotzdem lassen sich solche der breiten Gesellschaft bekannten Geschichten gut dazu nutzen, uns durch Umschreiben oder mit einigen einfachen Vergleichen Dinge bewusst zu machen und in Erinnerung zu rufen. Und zu guter Letzt gibt es eine noch einfachere Lösung, wenn wir uns ein Märchen mit dem subversiven Potential wünschen, Geschlechterrollen in Frage zu stellen: Wir setzen uns hin und schreiben selbst eine von Grund auf neue Story. Wir sollten aber die alten Märchen deshalb nicht gleich verteufeln und aus dem Bücherregal entfernen, sondern als Produkte ihrer Zeit verstehen – manchmal soll eine Geschichte auch einfach nur eine Geschichte sein dürfen.
Eure Märchentante,
Rotkäppchen aka Der Wolf