Team Film: Von außergewöhnlichen FreundInnenschaften und BlattmusikantInnen
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Vom 19. bis zum 26. April wurde das kleine Nyon in der französischsprachigen Schweiz zu einem bunten Schmelztiegel von Dokufilmfans und Filmschaffenden rund um den Globus. 110 Filme an fünf verschiedenen Orten wurden am 19. Visions du Réel, einem der wichtigsten internationalen Dokumentarfilmfestivals, gezeigt.
„Mein Opa hatte 18 Kinder und ich werde ihn übertreffen“ – für den 71-jährigen Ex-Mafioso Vidas Zenonas Antonovas, dem Protagonisten des ausgezeichneten litauischen Filmbeitrags „Tevas“ (Vater) von Marat Sargsyan, ist es das höchste Lebensziel, Kinder zu zeugen – und das so viele wie möglich. Für eine Stunde taucht man in den bunten Alltag einer Großfamilie ein, in der alle Mitglieder kurz geschorene Haare haben, der Vater seine Festnahme inklusive Schießerei mit seinen Kindern nachspielt und den kleinen Mädchen beibringt, wie frau jemandem ordentlich eine verpassen kann. Auf eine subtile Art und Weise versteht es der Autor, in seinem Film eine Sympathie für diesen „alten Verbrecher“ und seine riesige Familie aufzubauen und verdient damit den mit 10.000 CHF dotierten Preis der George Foundation für den besten mittellangen Filmbeitrag.
Im nächsten Film geht es von Litauen nach Österreich: „Omsch“ ist gerade 101 Jahre alt geworden und bewohnt eine hübsche Altbauwohnung im Herzen Wiens. Ihr Nachbar, der 40- jährige Edgar, stellte sich am Tage seines Einzugs bei der alleinstehenden Dame vor, kam zum Essen vorbei und blieb als guter Freund bis zu ihrem Tod. Der österreichische Filmemacher Edgar Honetschläger dokumentiert seine langjährige Freundschaft zu einer einzigartigen Frau, die, wie sie selbst behauptet, nur aufgrund ihrer lebenslangen Unabhängigkeit so alt werden konnte. Bei all den rührenden Szenen einer scheinbar tiefen Freundschaft, hinterlässt der Geltungsdrang des Autors, der sich im Film deutlich überinszeniert, einen etwas faden Nachgeschmack.
Ganz anders funktioniert der Film der ebenfalls österreichischen Regisseurin Eva Eckert. Als leider eine der wenigen Filmemacherinnen des Festivals führt die Wienerin die ZuschauerInnen hinter die Kulissen des „Schuldenbusiness“. Eva Eckert porträtiert diejenigen, die mit Schulden ihren Lebensunterhalt verdienen, Menschen, die dadurch ihre Existenz verlieren und solche, die den Mittellosen Halt bieten. Am Ende des Filmes sieht man zig Antworten grosser Inkassounternehmen, in denen, mit mehr oder minder diplomatischen Formulierungen, der Autorin eine Drehgenehmigung verweigert wurde. Wie bezeichnend ist diese Ablehnung gegenüber einer Frau, die es „wagt“ hinter die Maschinerie einer männerdominierten Branche zu blicken.
Dass Dokumentarfilme nicht nur dramatische Schicksale aufzeigen müssen, beweist hingegen der Filmbeitrag „Anplagd“, zu Englisch „unplugged“. Josip, der bereits über hundert Musikinstrumente erfunden hat, versucht sich am einem der Schwersten: einem einfachen, grünen Blatt. In Vera, einer ehemaligen Detektivin, hat er seine Mentorin gefunden: „Niemand beherrscht die Kunst des Blattspielens so gut wie Vera, alle anderen können einpacken!“. Die temperamentvolle Frau, die gerne mal ihrem Ehemann vor der Kamera eine Szene macht, übt geduldig mit ihrem Schützling im Wald, einer wahren Goldgrube von potentiellen Musikinstrumenten. Sie ist die wahre Heldin des Films, eine unübertroffene Meisterin einer kaum bekannten Disziplin. Kaum ein Dokumentarfilm bringt die Audienz so zum Lachen wie „Anplagd“. Josip schafft es mit seinen ersten Blattmusikübungen eine Schafherde zu verscheuchen und nimmt sich selbst, bei seinem noch so ernsthaften Unterfangen, das Blatt perfekt spielen zu können, auf eine sehr sympathische Art auf die Schippe. Die Autoren des Films, Mladen Kovacevic und Crew, werden von Vera während der Aufnahmen aufgefordert, serbische Schlager vorzusingen und verwischen damit die Grenze von Aufnehmenden und Aufgenommenen. Diese Selbstreflexion macht aus diesem unterhaltsamen Beitrag einen wertvollen ethnografischen Film.
Nach zwei Tagen, zehn Filmen, drei Sprachen und unglaublich viel Kaffee kann ich ganz klar sagen: Es hat sich gelohnt. Wünschenswert wären allerdings mehr Beiträge von Frauen vor wie auch hinter der Kamera – das Visions du Réel visualisiert schließlich Realität.
Von Henrietta