Kathy Meßmer
Von
Statement der Soziologin und Mitinitiatorin von #Aufschrei zu fünf Jahren Queer-Feminismus
„In fact, it is only when we are sufficiently impressed by the injustice of some situation in the world that we are moved to change it. […] In this way, we might understand politicization as motivated by an intelligent vulnerability.“ (Butler 2011)
Wir sind verletzbar. Körperlich und psychisch. Durch andere Menschen ebenso wie durch Normen und Institutionen. Verletzbarkeit ist politisch. Sie ist abhängig davon, wen wir als verletzbar begreifen, aber auch davon, wen wir als Gesellschaft schützen und wen wir der Verletzung preis geben. Verletzbarkeit ist politisch, weil sie uns handeln machen kann – oder lähmen. Weil sie uns politisch werden lässt oder von Politik ausschließt. Verletzbarkeit ist politisch, weil sie Allianzen eingeht mit Handlungsmacht ebenso wie mit Ohnmacht. Und sie ist politisch, weil sie verknüpft ist mit Ungleichheit und Diskriminierung, weil Sexismus, Rassismus, Klassismus, Trans- und Homofeindlichkeit zugleich verletzbare und verletzte Subjekte hervorbringen.
Der #Aufschrei auf Twitter und die Sexismus-Debatte haben all diese Ambivalenzen sichtbar gemacht. Die potentiellen Verletzbarkeiten ebenso wie die konkreten Verletzungen. Die Ausschlüsse ebenso wie die politische Kraft und Wirkmächtigkeit, die in der Gegenwehr stecken kann. Der #Aufschrei war damit ein Akt des Reclaiming und Empowerments, indem er Verletzbarkeit ent-individualisiert und (re)politisiert hat. Er war das konsequente Fortschreiben feministischer, ja überhaupt emanzipatorischer Anliegen, die im Internet eine technische Infrastruktur für feministische Gegenöffentlichkeiten gefunden haben.
Dass sich #Aufschrei bei aller Spontanität so formte, wie wir ihn heute kennen, lag daran, dass Menschen ihn verstanden und aufgriffen, ihn selbst formten und veränderten, gemeinsam ein Netz an Bedeutungen sponnen. Ein Netz, das beeinflusst war von den vielen vorangegangenen feministischen Diskussionen in den sozialen Medien. Und gerade diese sind für mich die wohl größte Errungenschaft der vergangenen fünf Jahre, denn sie haben feministische Anliegen bisweilen wütend bisweilen sanft, mal schreiend mal flüsternd, vor allem aber beständig in den öffentlichen Diskurs eingeschrieben.
Und so ist #Aufschrei nicht nur verdichtetes Sinnbild für den Erfolg feministischer Anliegen. Er ist auch Sinnbild für Ambivalenzen und Scheitern. Für die Verkürzungen, die mit dem Eintritt politischer Anliegen in den Diskurs und die Logiken der Massenmedien einher gehen. Für die Ausschlüsse intersektionaler Perspektiven. Doch wenn wir – wie Carolin Emcke schreibt – „Mechanismen der Exklusion unterwandern wollen, wenn wir Strategien der Inklusion entwickeln wollen, dann müssen wir an der Genauigkeit unserer Sprache arbeiten, dann müssen wir uns wieder und wieder bemühen, unsere Trauer, unseren Zorn, unsere Verzweiflung zu übersetzen in Geschichten und Bilder, die nachvollziehbar machen, was diese Normen und ihre Anwendungen bedeuten.“ Das gilt für gesamtgesellschaftliche Debatten gleichermaßen wie für innerfeministische.
Wir müssen (einander) sichtbar machen, welche Verletzungen und Verletzbarkeiten untrennbar miteinander verknüpft sind. Und wir müssen dies wiederum übersetzen, ja aus den Gegenöffentlichkeiten hinaus tragen. Das bedeutet immer wieder auch scheitern. An uns selbst, an unseren Zielen und Anliegen. Das bedeutet neue Verletzungen. Doch es bedeutet eben auch: neue Bündnisse und politische Handlungsmacht. Nur so können wir etwas verändern. Verletzbarkeit ist politisch.