Heute wird Neneh Cherry 50. Mit „Blank Project“, ihrem ersten Solo-Album nach 18 Jahren, hätte sie sich selbst, ihren Fans und diesem frischen Frühling kein besseres Geschenk machen können. Ein Gespräch über die Ironie des Lebens, feministische Heartbeats und ihr ganz persönliches „Coming Out“

Sie steht auf der Bühne mit einer großen Flasche Wasser in der Hand. Das Publikum trägt sie förmlich auf den Händen, applaudiert wann immer möglich und schickt ihr mit verliebten Augen ein seeliges Lächeln auf die Bühne. Neneh Cherry nimmt einen Schluck und ruft: „This is to be young! This is to life!“ Applaus. Und dann: „This is to be old! I’m turning 50!“ Diese Frau hat dermaßen viel ungezwungene Lässigkeit auf dem Buckel, dass Kategorien wie Alter sich plötzlich mit einem fetten Bass in Luft auflösen.

Die Schwedin trägt ein knallorangenes, locker geschnittenes T-Shirt-Kleid mit mittlerweile wild umher tanzenden Locken, gibt unfassbar smoothe Moves zum Besten und füllt mit ihrer Stimme, die den einen vor allem noch von ihrem 89er Hit „Buffalo Stance“ und den anderen vom Song „7 Seconds“ mit Youssou N’Dour bekannt ist, den ganzen Raum aus. Und weil Neneh Cherry nun einmal die Frau ist, ohne die es Trip Hop vielleicht nicht gegeben hätte (Achtung, Übertreibung aus Leidenschaft!), ist dieser Raum kein geringerer als das Berghain.

Ein paar Stunden vor Konzertbeginn sitzt Cherry im Backstage, isst ein bisschen Obst und hat gerade mit ihrer 18-jährigen Tochter telefoniert, die während der Tour alleine zu Hause ist und plötzlich feststellt, dass alles dreckig wird, wenn Mama nicht da ist. Mama tritt statt dessen gleich in einem weltweit bekannten Club auf, in dessen Treppenhaus ein riesiges Pussy-Foto die Besucherin begrüßt: „Ich wollte hier schon immer mal her,“ freut sich Cherry und ist mit ihrer guten Laune, den leicht müden, aber trotzdem hellwachen Augen und der dicken Wollmütze so ungefähr die netteste Interviewpartnerin, die man sich vorstellen kann.

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„Blank Project“ ist Ihre erste Solo-Platte nach 18 Jahren – das schreit förmlich nach dem Begriff „Comeback“. Fühlen Sie sich denn nach einem? 

Für mich fühlt sich die neue Platte eher wie ein Coming-Out an. In den letzten Jahren ist viel passiert. Ich habe eine Familie und Kinder, mit denen wollte ich Zeit verbringen. Musikalisch habe ich mit anderen zusammen gearbeitet, war in der Band „CirKus“ mit meinem Mann und meiner Tochter. Das habe ich gebraucht, um zu wachsen – irgendwo zu sein, wo ich nicht im Mittelpunkt stand. Jetzt war es aber auch an der Zeit, mit all den Gedanken und Gefühlen der letzten Jahre dieses Album zu machen. Es wäre sonst eines dieser Dinge gewesen, die ich mein Leben lang bereut hätte, nicht getan zu haben. Und das fühlt sich jetzt eben wie ein Coming Out an, weil es irgendwie befreiend ist, dass es raus ist. Ich glaube, so ist das Leben – man hat Phasen, in denen du etwas bekommst, dann fährst du damit eine Weile, dann hältst du für eine Weile an und dann gehst du zum Nächsten. Und ich glaube, ich bin jetzt in etwas Nächstem drin.

In anderen Interview meinten Sie bereits, dass der Tod Ihrer Mutter dieses Album stark beeinflusst habe. „Blank Project“ hat ruhige Stellen, sehr ruhige, ist aber nie traurig. Wie sind Sie mit dem Tod umgegangen?

Nachdem meine Mutter starb, verschwand ich für etwa ein Jahr an einen ziemlich dunklen Ort. Ich war so schockiert und in meinem Sein wie eingefroren. Ich konnte nichts riechen, schmecken oder hören. Meine Mutter hatte ein sehr lebendiges Leben, war eine sehr beseelte Frau und hatte einige Philosophien über Leben, Tod und Kreativität. Ich konnte sie irgendwann fast bei mir spüren und sie sagen hören, dass ich diesen Zustand in kreative Energie umwandeln sollte, dass ich es raus lassen sollte. Und dann war ich plötzlich wieder zurück im Leben. Wenn jemand stirbt, realisierst du auch, wie wertvoll das Leben ist. Es fühlte sich fast wie eine Explosion von Gerüchen und Gefühlen an. Die Präsenz von Leben kam wie eine Flut über mich. Auf dem Album gibt es ruhige Momente, laute Momente, innere Momente und es gibt Momente, in denen es darum geht, das Lachen zu lernen, das Beobachten der Ironie des Lebens. Es ist kein Album zur Selbsttherapie, trotzdem ist es eines der intimsten Dinge, an denen ich bisher gearbeitet habe. Das liegt auch einfach an der Art, wie wir es gemacht haben.

Aufgenommen haben Sie in Woodstock mit vielen Teppichen an der Wand im Studio von Kieran Hebden alias Four Tet, wo Sie die Songs einfach live eingespielt haben, richtig?

Ja, wir haben die einzelnen Elemente kaum manipuliert. Das Album ist also nicht perfekt und ich konnte es mir erst gar nicht anhören, weil mich die Vorstellung so überwältigt und irgendwie auch verängstigt hat. Wenn man sich heute Alben anhört, klingen die perfekt. Man kann Fehler wegwischen, man kann Auto-Tune benutzen, man kann Zeiten verlängern – du kannst alle groben Kanten ausbügeln. In diesem Album sind die Fehler noch drin. Und am Anfang habe ich mich genau auf die Fehler nur konzentriert.

„So ist das Leben – Fehler bleiben.“

Wie kam es, dass Sie am Ende nicht doch hier und da was ausgebügelt haben?

Kieran war da super: Bei Sachen, die ich ganz falsch fand, meinte er nur, dass es genau so ok sei. Und ich habe ihm vertraut. Nach einen paar Wochen konnte ich das Album dann hören, wirklich hören und merkte: Er hatte Recht. Im Album hört man, wo wir es gemacht haben, welche Gefühle dabei waren, als wir es gemacht haben. Und all diese Dinge durften bleiben, durften auf dem Album bleiben. Auch dadurch ist das Album sehr heilsam für mich gewesen, denn so ist ja irgendwie auch das Leben – Fehler bleiben und gehen nicht einfach weg. Ich dachte vorher, dass es seltsam werden würde, 50 zu werden. Aber jetzt habe ich wirklich das Gefühl, ich kann diesen Moment umarmen. Ich habe das Gefühl, an einem Ort angekommen zu sein, nach dem ich mich gesehnt habe. Ich fühle mich irgendwie komplett und kann sagen: Ok, egal was das hier jetzt ist, ich bin da.

In diesen 50 Jahren haben Sie ja auch schon alles Mögliche erlebt. Zum Beispiel in einer WG mit Ari Up gelebt, oder auch mal bei The Slits mitgespielt. Schlägt da noch immer ein feministisches Punkerinnenherz in Ihrer Brust?

Auf jeden Fall! Dieser Herzschlag von Womanhood, Feminismus und Stolz darüber, wer wir sind in einer Art Sisterhood, ist essentiell. Wenn ich zurück blicke und daran denke, was ich gelernt habe aus meiner Beziehung und meiner Freundschaft mit Ariane oder Tessa Pollitt, Viv Albertine und anderen Frauen aus dieser Runde – für mich waren diese Frauen sehr inspirierend. Sie haben mir gezeigt, dass alles möglich ist. Ari ist ja vor zweieinhalb Jahren gestorben und ich glaube, bis heute ist ihre Relevanz für Frauen in der Musik vollkommen unterschätzt worden. Als ich das erste Mal Björk gehört habe, hat es mich sofort an Ari erinnert! Ich glaube, dass sie sicher eine große Inspiration für sie war. Es ist wichtig, dass wir Frauen uns daran erinnern, dass wir auf einer Reise sind und dass wir nicht aufhören dürfen, zu kämpfen. Es ist einfach, rumzusitzen und zu sagen, dass wir es doch schon so weit gebracht hätten und so vieles besser sei. Faktisch sind viele Sachen das noch nicht.

Sie selbst sind vermutlich auch für viele junge Musikerinnen ein Vorbild oder ein wichtiger Einfluss. Gibt es wiederum Menschen, die Sie noch immer beeindrucken?

Ich bin ständig inspiriert von Frauen und den Sachen, die wir machen. Deshalb bin ich auch so glücklich, dass Robyn für den Song „Out Of The Black“ mit auf dem Album ist. Ich bewundere, was sie macht und finde sie sehr inspirierend. Martina Topley-Bird ist auch toll. Vieles, was Männer machen, ist auch inspirierend, aber auf einer anderen Ebene gibt es da noch etwas anderes. Wenn du eine Frau siehst, die was macht, gibt es da eine andere Verbindung, ein anderes Verstehen und das ist in anderer Hinsicht wichtig. Ich finde es auch aufregend, dass immer mehr Frauen auch selbst produzieren, programmieren, dass sie diesen Teil auch einnehmen. Es gibt ja viele junge Frauen, die Gitarre spielen und singen, aber nicht in alle Aspekte des Musikmachens eintauchen.

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Sie leben seit einiger Zeit wieder in Ihrem Heimatland Schweden. Verfolgen Sie da die FATTA-Kampagne, die sich für striktere Gesetze in Hinblick auf sexuelle Nötigung einsetzt?

Ja, natürlich! Es gab einige Fälle in Schweden, die zeigen, dass viele noch immer denken, dass eine Frau selbst mit ihrem Äußeren dafür verantwortlich ist, wenn ihr etwas Schreckliches passiert. Es ist dieses alte Syndrom: Du bist ja auch draußen mit einem kurzen Rock umher gelaufen – was hast du denn erwartet? Ich erwarte natürlich, dass ich sicher nach Hause komme. Manchmal frustriert mich Schweden sehr. Es kann ein sehr passiver Ort sein. Die Menschen sind sehr konfliktscheu. Es gibt aber auch einen sehr starken Strang von Leuten, die sehr kämpferisch sind und die Dinge machen. Darauf bin ich sehr stolz. Meine jüngste Tochter ist 18 und ihr Freund geht so ungefähr zu jeder möglichen Demonstration, auch zu feministischen. Das ist wunderbar.

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Auch auf „Blank Project“ findet sich eine Geschichte ihrer Tochter wieder, genauer: von einer Freundin ihrer Tochter, der ein Typ im Laden seine Nummer zusteckte. Wie das genau ablief, singt Neneh Cherry jetzt in „Dossier“. Die erwachsenen Töchter sind vielleicht das Einzige, das Cherrys Alter verrät. Doch, das ist schon faszinierend. Nach dem vollkommen ausverkauften Konzert im Berghain also steht die Musikerin noch am Merch-Stand und unterschreibt in Gold ihre neue Platte, bis die letzte LP verkauft ist. Zeit für ein Gruppenfoto, ausgefüllt mit breitem Lächeln. Nichts zu spüren von künstlicher Coolness, von „Ich brauche nach dem Konzert erst einmal Zeit für mich“ oder Gesprächsverklemmungen. Neneh Cherry ist mit 50 um einiges entspannter und zutiefst cooler, als manch jüngere KollegInnen. Well, this is to be old!

Neneh Cherry: „Blank Project“. Bereits erschienen. Smalltown Supersound / Rough Trade.