Kavita Meelu hat eine Passion: Im März 2012 gründete sie in Berlin ihr kulinarisches Projekt Mother’s Mother – und lässt seitdem SpitzenköchInnen traditionelle Familiengerichte von Großmüttern aus aller Welt nachkochen.
Von Friederike Göckeler

„Mein Projekt ist eine Hommage an die tägliche Küche der eigenen Großmutter, “sagt Kavita Meelu. (Foto: privat)

Der Dunst der Kochtöpfe beschlägt die Fensterscheiben. Nur verschwommen erkennbar sind zwei Frauen in einer kleinen Wohnküche in Berlin Kreuzberg. Es duftet nach Orient: Kreuzkümmel, Limonen, schwarzer Kardamom. Kavita und ihre Mutter Darshan bereiten indische Gerichte zu. Die Atmosphäre ist ausgelassen. Ungeduldig warten zwanzig Gäste auf ihre Speisen – aber vor allem auf die Geschichten, die dahinter liegen.

In den 1970er Jahren emigriert Kavitas Mutter aus Indien nach England. Ihre Tochter kommt 1983 in Birmingham zur Welt. Sie wächst ohne Vater mit zwei älteren Schwestern in einem reinen Frauenhaushalt auf. Ihre Mutter hält die kleine Familie mit sozialer Arbeit über Wasser. Eine prägende Zeit: Bis heute unterstützt Kavitas Mutter Frauen mit ähnlichem Migrationshintergrund, die aus Pakistan oder Indien nach England übersiedeln, um ein ihnen noch fremdes, aber neues Leben anzufangen. „My mother is an amazing woman, she is not perfect, but she is amazing. Sie hat viel erlebt und eine Menge zu erzählen“, sagt Kavita in einem Wechsel aus Heimat- und Fremdsprache.

Darshan ermöglicht ihrer Tochter ein Wirtschaftsstudium an einer internationalen Universität in London. Ihrem Wunsch nach, arbeitet Kavita zunächst in Politik und Werbung, bis ein harmloser Nebenjob in einer Cupcake-Bäckerei ihrem Leben eine radikale Wendung gibt. Ihr größter Traum war es immer, „irgendetwas mit Essen zu machen“. Kochen ist für Kavita und ihre Londoner FreundInnen mehr als nur Hobby. Da gab es Dorotea, die halb Kolumbianerin halb Griechin ist, eine Jordanierin und jemanden aus Nigeria. Zusammen kochten sie in ihrer Freizeit alte Familienrezepte nach und brachten „so ein Stück Heimat an einen uns noch fremden Ort“, sagt Kavita. Heimat hat hier längst keine feste Verortung mehr, sondern ist zu einem dynamischen Raum geworden, der buchstäblich „durch den Magen geht“. Heimat wird so zu Etwas, das aus unseren Erinnerungen und unserem Handeln entsteht. Sie ist da, wo man sich wohlfühlt, wo es nach warmen Apfelkuchen duftet, Kartoffeln geschält und Kindheitserinnerungen wach werden.

Beim gemeinsamen allabendlichen Kochen erinnert sich Kavitas Mutter häufig an ihre zu früh verstorbenen Eltern, die sie mit 17 Jahren bei einem Verkehrsunfall verliert. „Ich fand es romantisch und unheimlich zugleich, diese unzähligen Geschichten über die Zeit meiner Großeltern zu hören, ohne sie jemals kennengelernt zu haben“, sagt Kavita. Ihre Oma lebte im indischen Bundesstaat Punjab und war in der sozialen Gemeinschaft ihres Ortes hoch anerkannt. Wie das Haus ihrer Mutter war auch die Küche ihrer Großmutter stets offen für NachbarInnen, Reisende und Zugezogene. Sie kochten gerne Speisen aus anderen Ländern, wie Ecuador, der Türkei oder dem Iran. „Für Mama war es immer wichtig, dass wir so ein ‚insight to culture’ bekommen. Sie und Oma haben unsere Familien und Freunde trotz Verluste zusammengehalten“, sagt Kavita.

Kavitas Mutter Darshan vor dem Taj Mahal, 1972 (Foto: privat)

Freiräume zum Experimentieren

In London verliebt sich Kavita in einen Rheinländer aus Neuss und geht 2008 mit ihm nach Berlin. Hier findet sie den Mut und die Möglichkeit, das zu tun, was ihre Mutter und Großmutter einst taten: Kulturen durch Essen zu verbinden. Der einfachste Weg eine fremde Lebenswelt zu verstehen, funktioniert über die Geschmacksnerven. Das Ausprobieren einer besonderen Zutat, die Art und Weise der Zubereitung – „all das führt zu einer Sensibilisierung kultureller Unterschiede“, sagt Kavita.

In London herrsche eine im Vergleich zu Berlin offenere multikulturellere Atmosphäre. Dort mischen sich Nationalitäten einfacher, man bekäme eine größere kulinarische Vielfalt geboten, meint Kavita. London sei aber auch eine Stadt des großen Wettbewerbs. In Berlin entdeckt Kavita endlich die Freiräume, die sie zum Experimentieren braucht: einen Ort für unkonventionelle Ideen. Die Ausbildung an einer Restaurantschule ersetzt sie durch ein Praktikum in einem Gastronomiebetrieb und nächtelange Kochexzesse mit FreundInnen. Zahllose dreckige Bratpfannen später gründet sie im März 2012 ihr kulinarisches Projekt Mother’s Mother. Die Idee: Fast vergessene Rezepte aus der alltäglichen Küche der eigenen Großmutter werden von professionellen KöchInnen für einen Abend nachgekocht.

Mother’s Mother findet alle zwei bis drei Monate statt, da Kavita neben ihrem Projekt noch Gründerin von Streetfood Events wie Burgers & Hip Hop und The Bar Market ist. Über Mundpropaganda und das Internet kommen bis zu fünfundzwanzig Leute unterschiedlichster Nationalitäten zusammen. Verständigt wird sich auf Englisch. Ein leerer Raum, ein paar zusammengestellte Tische und wenige Accessoires reichen aus, um eine Atmosphäre ähnlich der Supper Clubs zu schaffen, die in privaten Wohnungen auf Spendenbasis Menüs servieren. Die Idee der Untergrundrestaurants stammt ursprünglich aus Kuba und ist mittlerweile in der ganzen Welt verbreitet. Aus finanzieller Not entstand ein Gemeinschaftsprojekt, in dem zusammen eingekauft, gekocht und gegessen wird.

Der Kontakt zu den KöchInnen von Mother’s Mother kommt einerseits über Kitchensurfing, eine Online-Community, die für einen Abend junge KöchInnen an private Haushalte vermietet. Eine Art kulinarische Privatisierung. Ein 2012 realisiertes Konzept von Chris Muscarella, Borham Cho und Lars Kluge, die Kavita in Berlin kennenlernt – und an dem sie neben ihrem eigenen Projekt als Koordinatorin bis 2013 mitarbeitete. Ihre KöchInnen lernt sie aber vor allem zufällig in einer Bar oder über FreundInnen kennen, dann sitzen sie einen Abend lang zusammen, öffnen eine Flasche Wein und packen Anekdoten über die gute alte Zeit aus. Am Ende des Abends haben sie ein Festmahl als „Hommage an die tägliche Küche der eigenen Großmutter“, sagt Kavita. So entsteht aus der Kombination kulinarischer Traditionen des jeweiligen Heimatlandes und kreativer Ideen geschmacklich etwas ganz Neuartiges, das nicht nur bei den Großmüttern gut ankommt.

Kultur durchs Kochen

Manche der KöchInnen von Mother’s Mother lassen Zutaten aus fernen Ländern einfliegen, um ihre Rezepte möglichst geografisch genau zu rekonstruieren. Zusätzlich wird ein riesiges Porträt der jeweiligen Oma an die Wand gehängt, „so dass sie ein wenig wie eine Heldin zu uns runterschaut und wir zu ihr hoch“, sagt Kavita. „Das Essen unserer Großmütter, ihr tägliches Ritual, gibt uns Kraft und das Gefühl, große Armeen und Götter zu bezwingen“.

Auch Matthias Barthelmes, ein Berliner Koch und Projektteilnehmer, erinnert sich gern an den verwunschenen Garten seiner Oma Gerda, in dem außer Unkraut nur rote Beete und Sauerampfer wuchs. Unter dem Titel Grandmas Garden kreierte er aus Red Sorrel & Beetroot Sorbet eine Nachspeise als Hommage an seine Kindheit in Omas wilder Grünfläche.

Kavitas Oma Dhan Kaur, 1964 (Foto: privat)

Hier stehen nicht die Trophäen der Spitzenköche im Fokus, sondern das, was jeden Tag hinter den vier Wänden, in den Küchen der Familien passiert. Mother’s Mother will den vergessenen Lebensläufen jener Frauen nachspüren, die über Generationen ein Leben außerhalb der Öffentlichkeit führten und auf ihrem Lebensweg noch einige mehr Steine im Weg liegen hatten, als die Jüngeren. Kavitas schafft mit ihrem kulturkulinarischen Projekt Räume, in denen sie Geschichten kommuniziert und dokumentiert.

„For me it was essential to accept how important women are in creating culture through food“, sagt Kavita. Neben der Vollzeitarbeit hat Kavitas Mutter das Kochen immer auch als Möglichkeit genutzt, mit Menschen unterschiedlichster Herkunft in Dialog zu treten und kulturelle Erfahrungen weiterzugeben. Was früher lediglich im Privaten stattfinden konnte, bringt Kavita mit ihrem Projekt vor ein Publikum. Wenn auch nur für einen Abend lang, erhalten hier die alten Damen eine angemessene Würdigung ihrer Leistung.

Generationen in der Großstadt

Den berührendsten Moment bei Mother’s Mother erlebt Kavita mit der 92-jährigen Freundin ihrer Großmutter Zia Melina, deren Gerichte an diesem Abend nachgekocht wurden. Sie nahm den weiten Weg aus ihrem italienischen Heimatdorf auf sich, um ihren Geburtstag in Berlin mit ihrer Enkelin und den Gästen des Abends zu feiern. „Sie war sichtlich gerührt über die große Anzahl der jungen Leute“, sagt Kavita. Aber vor allem über die Begeisterung an den alten Leibgerichten ihres Heimatlandes und das große Interesse an ihrem kleinen italienischen Leben. Der gesellschaftlich fundamentale Austausch zwischen den Generationen findet hier im großstädtischen Alltag seinen Ort.

 

 

Kavitas Webseite mothersmother.com dokumentiert die Vielfältigkeit des Projektes und fordert zum kulinarischen Stöbern auf. „Es ist beeindruckend“, schwärmt Kavita, „wie schnell sich das ganze in der Food-Szene rumgesprochen hat und wie viele Leute daran Anteil nehmen.“ Am liebsten würde sie aus all dem ein Buch oder eine TV-Serie machen: Eine, die nicht nur vom Kochen handelt, sondern von realen Geschichten aus dem Leben, denn das sei es, was die Leute interessiert.

Dennoch hofft sie darauf, dass ihr Projekt klein und damit authentisch bleibt. Auch um den Spaß-Faktor und das dahinterliegende Lebensgefühl nicht zu verlieren. Und um noch mehr bezaubernde sowie absurde Details aus dem Leben der alten Damen zu hören. „Mother’s Mother hat mein Leben verändert“, sagt Kavita, „deshalb werde ich damit so lange weitermachen, bis ich eines Tages selbst Großmutter bin.“

Aktuelle Koch-Termine gibt es auf der Facebook-Seite von „Mother’s Mother“. Das nächste „Burgers & Hip Hop“ gibt’s am 03. Mai in Berlin.