Von Chris Köver

„Rassismus in Deutschland? Gibt es doch gar nicht.“ Diesen Satz bekam May Ayim von einem Professor zu hören als sie ankündigte, ihr Pädagogikdiplom über die Geschichte von Schwarzen Deutschen zu schreiben.

Foto: Orlanda Verlag

Dass der Professor keine Ahnung hatte, wovon er sprach, wusste May Ayim zufällig recht genau. Sie war als Tochter einer weißen deutschen Mutter und eines ghanaischen Schwarzen Vaters in Deutschland geboren, getauft auf den Namen Sylvia Brigitte Gertrud. Aufgewachsen ist sie bei Pflegeeltern in Münster. Sylvia Brigitte Gertrud Opitz war also in Deutschland geboren, hatte eine deutschen Pass, sprach fließend deutsch. Wenn sie auf die Straße ging, merkte sie trotzdem schnell, dass sie nicht in dieses Land gehörte. „Guck mal Mama, ein N*“, sagten andere Kinder. „Sei froh, dass du nicht im Busch geblieben bist“, sagten Erwachsene.

„Ich bin mit dem Gefühl aufgewachsen, dass ich zwar hier lebe, aber eines Tages hier weggehen muss,“ sagt sie später in einem Interview mit der Filmemacherin Maria Binder. „Denn die erste Frage ist immer: woher kommen sie, und die zweite: wann gehen sie zurück.“ Dass sie mit einer schwarzen Haut keine Deutsche sein konnte, war klar. Zumindest den Weißen. Und ihr bald auch.

Die einzigen Schwarzen Menschen, die May Ayim als Kind kennt, sind ihr Vater – der alle paar Jahre zu Besuch kommt, um sie über den Kopf zu streicheln –, und die „zehn kleinen N****“ aus dem Kinderlied. Im erzkatholischen Münster ist sie etwa so unauffällig wie ein Mensch im Würstchen-Kostüm bei der Sonntagsmesse.

Dass es in der deutschen Geschichte auch andere Schwarze ProtagonistInnen gab als die aus ihrem Kinderlied, erfährt sie erst viel später – nachdem sie eine Ausbildung zur Krankenschwesternhelferin gemacht und in Regensburg angefangen hatte Pädagogik zu studieren. Während der Recherchen für besagte Diplomarbeit, die ihr der kluge Professor ausreden wollte, beginnt sie zu verstehen. 1984 zieht sie nach Berlin und lernt dort die afroamerikanische Schriftstellerin und feministische Aktivistin Audre Lorde kennen. Diese war im selben Jahr aus New York für eine Gastprofessur an der Freien Universität nach Berlin gezogen. Ihre Lesungen begann sie mit dem Satz: „Ich komme zu euch als Afroamerikanerin, Feministin, Lesbe, Kriegerin, Schwarze Aktivistin, Dichterin, Mutter, Krebsüberlebende“.

Ermutigt von Lorde veröffentlicht May Ayim 1986 ihr erstes Buch „Farbe Bekennen“, damals noch unter dem Namen May Opitz. Der Sammelband wird ein Schlüsselmoment für die afrodeutsche Community. Das Sprungbrett. Oder vielleicht eher ein Stück Treibholz auf offener See, auf das man sich retten kann. „Wir haben zum ersten Mal einen Begriff für uns selbst entwickelt, um nicht den herkömmlichen Bezeichnungen ausgesetzt zu sein.“ Ayim und ihre MitstreiterInnen reißen diese Fremdzuschreibungen ab, errichten sich eine eigene Identität als Schwarze Deutsche und geben sich selbst einen Namen: afrodeutsch. May Ayim hatte diesen Namen ihrer Muttersprache mit Mühen abgerungen, das war ihre Spezialität. Sie kämpfte gerne um Freiräume in der deutschen Sprache „mit ihren rassistischen Elementen, die oft gegen mich selbst gerichtet sind“. Im selben Jahr gründen sie und andere den Verein „Initiative Schwarze Menschen in Deutschland“.

Vor allem aber schreibt May Ayim Gedichte. Die sind immer in klaren Worten gefasst und nehmen das Repertoire des deutschen Alltagsrassismus als ihr Rohmaterial, aus dem man sich nur eine Handvoll Müll herausgreifen muss, um daraus ein Kunstwerk zu formen. Zum Beispiel in „exotik“, geschrieben im Jahr 1985 und veröffentlicht im Sammelband „blues in schwarz-weiß“:

nachdem sie mich erst anschwärzten
zogen sie mich dann durch den kakao
um mir schließlich weiß machen zu wollen
es sei vollkommen unangebracht
schwarz zu sehen.

Oder in „afrodeutsch I“, ihrem meistzitierten Gedicht:

Sie sind afrodeutsch?
…ah, ich verstehe: afrikanisch und deutsch.
Ist ja ‘ne interessant Mischung!
Wissen Sie, manche, die denken ja immer noch,
die Mulatten, die würden’s nicht
so weit bringen wie die Weißen.
Ich glaube das nicht.
Ich meine, bei entsprechender Erziehung,…

1995 erscheint der Gedichtsammelband „blues in schwarz-weiss“ im Orlanda Frauenverlag, wie fast all ihre Bücher. Darin rechnet May Ayim auch mit einem frisch wiedervereinigten Deutschland“ ab, das sich nach 1990 gerne „weiss“ und „im intimen kreis“ feiert: „ohne immigrantInnen flüchtlinge jüdische und schwarze menschen.“

Ihre Gedichte hat sie stets frei vorgetragen, als Performance aufgeführt. Keine Frage, diese Lyrik ist näher an Rap und HipHop denn an Enzensberger. Sie sprach diese Gedichte so, wie Willi Millowitsch Volkstheater spielte. Es war eine komische Form des Overacting dieser Müll-Sätze, es sah manchmal aus als würde sie gleich aus der Rolle fallen und loslachen über die Absurdität dieser Sätze. Der Humor war ihr Umhang und sie die Schwarze Superheldin mit dem bunten Tuch um den Kopf.

May Ayim hat ihre Muttersprache geliebt. Sie arbeitete sich ein Leben lang an ihr ab. Das Gleiche gilt für ihre deutsche Heimat, in die sie immer wieder zurückkehrte von ihren Reisen nach Südafrika und Auftritten bei internationalen Performance-Festivals. Trotz des „Woher kommen Sie?“ und des „Wann gehen Sie zurück?“

Am Ende hat der Humor nicht mehr gereicht und die Superheldinnenkraft auch nicht, vielleicht wurde der Kampf auch einfach zu anstrengend. 1996 erhält May Ayim die Diagnose Multiple Sklerose. Sie muss Psychopharmaka nehmen und fürchtet sich davor, wie diese sie verändern und von der Sprache abschneiden. Am 9. August stürzt sie sich aus dem 13. Stock eines Hochhauses, da war sie 36 Jahre alt.

May Ayim ist nie irgendwohin zurückgegangen, weil es nichts zum Hinzurückgehen gab. Stattdessen ist sie hier geblieben, so lange wie sie konnte. Und wird weiter bleiben.

Zum 54. Geburtstag von May Ayim veranstalten die Vereine Initiative Schwarze Menschen in Deutschland, ADEFRA, Berlin-Postkolonial und der Afrika-Rat ein Wochenende mit Filmen, Konzerten, Lesungen und einer Stadtführung. 2. – 4. Mai, Spreeraum des FHXB Museums, May Ayim Ufer 9.

May Ayim auf einen Blick

„Hoffnung im Herz. mündliche Poesie. May Ayim“ D 1997. Regie: Maria Binder. DVD Orlanda Frauenverlag. Auszüge im Netz.

May Ayim, Katharina Oguntoye und Dagmar Schultz (Hrsg.): Farbe Bekennen. Afro-deutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte. Berlin 1986. Damals unter den Namen May Opitz.

May Ayim: Blues in Schwarz-Weiß, 4. Auflage, Berlin, Orlanda Frauen Verlag.

May Ayim: Nachtgesang, Berlin, Orlanda Frauen Verlag, 1997.

May Ayim: Politische Texte, Momentaufnahmen und Gespräche.

May Ayim: Grenzenlos und unverschämt, Fischer, 2002.

UPDATE 8.5.2014: Wir haben in diesem Beitrag ursprünglich das N-Wort in zwei Zitaten ausgeschrieben. Nachdem wir hier und auf unseren Social Media-Kanälen darauf hingewiesen wurden, dass wir damit rassistischen Sprachgebrauch reproduzieren, haben wir diese Stellen geändert. Danke an die KritikerInnen und wir entschuldigen uns bei allen, die wir damit verletzt haben. Weitere Infos dazu hier.