Die Filmemacherin Lindsey Averill ist genervt. Nicht von ihrem dicken Körper, sondern von dem täglichen Mist, der ihr dafür entgegen schallt. Ihr Dokumentarfilm „Fattitude“ soll aufräumen mit den Vorurteilen um das Dicksein – die nötigen 38.000 Dollar hat sie per Crowdfunding bereits eingesammelt. Jetzt geht es in die nächste Runde.

Foto: www.fattitudethemovie.com

MISSY: Lindsey, du willst ein paar lieb gewonnene Ansichten über das Dicksein auf ihren Wahrheitsgehalt hin prüfen. Welche sind das?

Lindsey Averill: Dass Dicke faul sind. Dass sie ungesund sind, nur auf dem Sofa sitzen und sich Essen reinschieben. Dann gibt es die  verbreitete Annahme, dass Dicke nicht in der Lage seien, einen Job ordentlich zu machen. Und natürlich die tatsächlichen Mythen, die man in vielen Geschichten sieht: Dicke als monströse Figur wie die Seehexe Ursula in Disneys „Arielle, die Meerjungfrau“, oder als Witzfigur wie in „Austin Powers“, wo sich alle über den „Fat Bastard“ lustig machen. Gerade auch Schwarze Frauen und Männer werden notorisch als Witzfiguren charakterisiert, wenn sie in einem dicken Körper leben.

Was ist deine Haltung zu diesen Mythen?

Wir sagen zunächst mal: Selbst wenn jemand tatsächlich faul, schlampig oder unsportlich sein sollte, dann wäre das in erster Linie seine oder ihre Angelegenheit, die niemanden etwas angeht. Aber darüber hinaus sind die meisten dicken Menschen weder faul noch schlampig. Wir wollen diese Stereotype umformen, den Leute klar machen: Nur weil ich in einem dicken Körper herumlaufe, bedeutet das nicht, dass ich keinen Sport mache. Es heißt nicht, dass ich nicht hart arbeite. Und es heißt ganz sicher nicht, dass ich unfähig bin.

Der Film schaut besonders auf die Darstellung dicker Menschen in der Popkultur. Warum fokussiert Ihr Euch darauf statt, sagen wir, eine Petition gegen die Diskriminierung Dicker zu starten oder auf eine Gesetzesänderung hinzuarbeiten?

Wir machen das, was wir gut können. Sowohl ich als auch meine Kollegin, die Regisseurin Viridiana Lieberman, haben Abschlüsse im Bereich Repräsentation. Diese Thema liegt uns nahe. Aber darüber hinaus: Um Gesetze durchzubringen, muss man erst mal der Öffentlichkeit klar machen, warum es überhaupt neue Gesetze braucht. Ich habe den Eindruck, dass die meisten Menschen ihre Verachtung gegenüber dicken Körpern im Moment berechtigt und legitim finden. Die erkennen das nicht als Vorurteil, sondern sehen es als moralische Überlegenheit. Und sie neigen dazu, ihre Vorurteile mit einer Gesundheitsideologie zu begründen: Dicksein ist ungesund, deswegen ist es okay für mich, dicke Körper zu verachten. Wir müssen das ganze Klima ändern, die Art, wie im Moment über dicke Menschen gesprochen und gedacht wird.

Wie genau plant ihr, das mit eurem Film zu ändern?

Wir werden die Dokumentation bei größeren Filmfestivals einreichen, und hoffen, einen nationalen Verleih für die USA zu finden, der ihn in die Kinos bringt. Das wäre zumindest der Traum. Wenn das nicht klappt, werden wir eine Plattform bauen, die den Film und Materialien dazu zur Verfügung stellt – ähnlich wie Jennifer Siebel Newsom das für ihre Doku „Miss Representation“ getan hat. (Anm. d. Red.: Der Film kritisiert die Darstellung von Frauen in den US-Medien. Menschen, die den Film gerne zeigen wollen, können sich eine Kopie davon bestellen und Materialien für den Unterricht oder Workshops herunterladen.)

Im Trailer zu „Fattitude“ sieht man einige der Aktivistinnen und Wissenschaftlerinnen, mit denen ihr bislang schon Interviews geführt habt. Der erste Eindruck: Es gibt bereits viele Stimmen in den USA, die Fat Shaming und den Umgang mit Dicken laut kritisieren.

Haha, ja. Die Wahrheit ist: von den elf Frauen, die wir bisher interviewt haben, leben acht in San Francisco. Die Stadt ist fantastisch und ein super Ort für liberal denkende Menschen, aber es ist nicht repräsentativ für die USA. Diese Frauen tragen die Botschaft also hinaus. Auch an den Unis und in vielen Blogs wir das Thema verhandelt. Aber nicht im Mainstream.

Ein Effekt der Filterbubble also. Wir sehen alle mehr von dem, was wir ohnehin schon denken?

Wir versuchen, die Blase zerplatzen zu lassen! Bevor ich Viridiana Lieberman kontaktiert habe, hatte ich mir schon eine Weile Gedanken gemacht und mich gefragt: Welches ist das beste Format, um die Masse zu erreichen? Ich kam zu dem Schluss: eine 90-minütige Dokumentation. Leute schauen sich gerne Filme an und nehmen sich die Zeit dafür.

Du hast erwähnt, dass dicke Schwarze Menschen besonders notorisch zu Witzfiguren gemacht werden. Welche Unterschiede machen Kategorien wie „race“ oder Klasse, wenn es um die Diskriminierung von Dicken geht?

Wenn man sich das Ganze aus einer sozialwissenschaftlichen Perspektive anschaut, sieht man zunächst: In den USA ist es wesentlich wahrscheinlicher, dass du dünn bist, wenn du der Oberschicht angehörst. Einfach, weil es wahrscheinlicher ist, dass du Zugang zu qualitativ hochwertigeren Nahrungsmitteln und den vorgeschriebenen Trainings-Regimes hast. Plakativ gesagt: Du kannst es dir leisten, dünn zu sein. Insofern hat die ökonomische Position, die du in der Gesellschaft einnimmst, direkte Auswirkungen: je weiter oben, desto dünner. Je weiter unten, desto dicker. Was natürlich nicht bedeutet, dass alle reichen Menschen dünn sind: Ich komme aus der Mittelschicht und hatte genug Geld, um mir nährstoffreiche Nahrungsmittel zu leisten und bin trotzdem seit meiner Kindheit dick. Das ist einfach mein Körper.

Und wie genau spielt „race“ da hinein?

Wenn du in den USA nicht weiß bist, ist die Wahrscheinlichkeit, dass du arm bist höher. Insofern ist auch die Wahrscheinlichkeit höher, dass du aus den genannten Gründen dick bist. Wenn wir also über „dick“ als diskriminierende Kategorie nachdenken, dann wird deutlich, wie sich verschiedene Dinge aufeinander schichten. Nicht nur werden People of Color als People of Color diskriminiert, mit allen Stereotypen, die damit einhergehen. Sie werden auch noch als Dicke diskriminiert, für faul und unfähig gehalten. Dick ist dann nur noch ein Faktor in einer ziemlich komplizierten Struktur, die dich für weniger fähig und wertvoll erklärt.

Was ist mit Geschlecht?

Historisch gesehen wurden Frauen eher objektifiziert: Ein Mann wird auf Basis seines Erfolges bewertet, eine Frau auf Basis ihrer Schönheit. Mein Eindruck ist, dass sich das gerade ändert. In den vergangenen zwanzig Jahren sehen wir eine neue Entwicklung: Für Männer geht es jetzt darum erfolgreich und attraktiv zu sein. Und für Frauen ebenso. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen: Wir reden immer noch wesentlich mehr über Schönheit in Zusammenhang mit Frauen, aber wir bewegen uns in die Richtung. Soll heißen: Wenn wir uns nicht um dieses Problem kümmern, werden in ein paar Jahren nicht nur Frauen ihren Körper hassen, sondern alle.

Im Trailer fällt auf, dass ihr nur Frauen interviewt. War das Absicht?

Nein. Das lag daran, dass sich auf unseren ersten Aufruf nur Frauen gemeldet hatten. Inzwischen haben wir auch Gespräche mit Männern geplant. Wenn man mit Aktivisten spricht, fühlen die sich ebenso unterdrückt. Auch die werden nicht befördert, werden schlechter bezahlt usw. Keine Frage: Frauen haben immer noch wesentlich höheren Druck, schön auszusehen. Für Männer ist es nach wie vor gut möglich, erfolgreich zu sein ohne attraktiv zu sein – und damit meine ich: dem gesellschaftlichen Ideal von Attraktivität zu entsprechen. Aber es gleicht sich an.

Die Schauspielerin Melissa McCarthy spielt inzwischen in der ersten Liga in Hollywood. Rebel Wilson, eine weitere dicke Schauspielerin, dreht gerade das Sequel zum Musikfilm „Pitch Perfect“, in dem sie die Hauptrolle spielt. Geht es voran?

Ich freue mich sehr, dass wir immer mehr dicke Körper in Filmen und Serien sehen, dass also mehr dicke SchauspielerInnen Jobs bekommen. Aber ich finde die meisten dieser Darstellungen nicht positiv. Diese Frauen laufen immer noch in der Rubrik Witz. Wir lachen über Rebel Wilson, wir lachen darüber, dass sie diese Dinge in einem dicken Körper tut. Der Körper ist der Fokus des Witzes. Das gleiche gilt für Melissa McCarthy, sie spielt zwar die Hauptrolle in der Serie „Mike & Molly“, aber die Geschichte dreht sich um den Umstand, dass die beiden dick sind. Wir haben also inzwischen Romantic Comedies mit Charakteren, die dick sind, aber es geht immer noch darum, dass sie dick sind. Wir können nicht einfach so eine dicke Hauptdarstellerin haben.

Keine Ausnahmen?

Eine seltene Ausnahme ist hier vielleicht Amber Riley, die in der Fox-Serie „Glee“ die Mercedes spielt. Sie ist dick, aber das ist eigentlich kein Thema.

In „Glee“ spielen gleich mehrere dicke Frauen Hauptrollen. Neben Mercedes kommt ab der zweiten Staffel noch Lauren Zizes in die Clique, gespielt von Ashley Fink.

Ja, aber auch Lauren Zizes ist eigentlich ein Witz.

Wie das? Lauren ist dick und Mitglied im Wrestling Team und wickelt trotzdem den Footballspieler Puck um den Finger und kandidiert selbstbewusst als Prom Queen. Das ist doch total fantastisch.

Ja, diese Momente der Geschichte mag ich auch. Aber ich habe den Eindruck, sie ist eine Art Übergangsphase. Ashley Fink kann diese Rolle jetzt spielen, aber wenn man sich die Fankommentare anschaut, dann schreiben die Leute dort immer noch: Das ist total unrealistisch. Ein Typ wie Puck würde niemals mit ihr ausgehen. Und auch in der Show selbst sind die Botschaften durchmischt. Es gibt eine Szene, in der Lauren den Song „I know what boys like“ singt und dabei eine total sexy Performance hinlegt, reihum die Jungs im Raum anmacht. Die sind einfach nur völlig verängstigt und entsetzt darüber, dass eine dicke Frau so erotisch auftritt. Das sind Momente, in denen die Show auch dem Publikum kommuniziert: das ist nicht normal, sondern schockierend.

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Melissa McCarthy hat mit ihrem Ehemann gerade eine Komödie geschrieben und gedreht, die im Juli ins Kino kommt und in der sie angeblich nicht mehr die Karikatur der lauten Dicken spielen wird.

Oh super, da freue ich mich drauf. Sowohl bei Melissa McCarthy als auch Rebel Wilson ist es schon fantastisch, dass sie überhaupt so viel Macht und Einfluss haben. Dass sie von Leuten gemocht werden und das Publikum mehr von ihnen sehen will.

Was ist mit Lena Dunham und „Girls“? Auch in ihrem Fall wurde in den Medien hart verhandelt, ob man so einen Körper nackt im Fernsehen zeigen darf.

Ich finde „Girls“ aus einer Reihe von Gründen sehr toll, auch wenn ich die Serie gar nicht so mag. Mir gefällt, dass Lena Dunhams Körper nicht traditionell schön ist und dass sie trotzdem trägt und tut was sie will. Dass sie einfach in diesem Körper lebt, ohne dass es sich ständig darum dreht. Das geht in genau die Richtung, die ich mit vorstelle. Sie ist einfach eine Frau, die durch’s Leben geht und mit ihrem Körper klarzukommen versucht.

Stichwort Klarkommen. Ist Fat Acceptance ein Thema dicker Menschen?

Nein. Fat Acceptance geht es nicht um dicke Körper, sondern um alle Körper. Jemand, der herumläuft und davon ausgeht, dass Dicksein die schlimmste Sache der Welt ist, wird diesen Blick internalisieren und auch an seinem oder ihrem Körper überall Fett sehen und dieses verabscheuen. Solange wir diesen Blick nicht bekämpfen, wird keiner von uns mit seinem Körper zurecht kommen – egal ob dick oder dünn.

Das geht auch noch weiter: Weil dünne Menschen Dickenhass internalisiert haben, packen sie Essen und Moral zusammen. Leute sagen dann solche Sätze wie: Ich war heute so böse, ich habe einen Brownie gegessen. Das ist moralisierend. Man sagt damit: Ich bin eine schlechte Person, weil ich einen Brownie gegessen habe.

„Böse“ meint aber in diesem Fall ja nicht boshaft, sondern eher „unartig“, so wie man Kindern schimpft, dass sie böse waren, wenn sie irgendwelche Regeln verletzen.

Ja, aber das ist moralisierend! Schon die Idee, dass es überhaupt „unartig“ ist, etwas mit so vielen Kalorien zu essen. Dass ich damit die Grenzen dessen überschreite, was moralisch akzeptabel ist. Wenn ich Brownies esse, bin ich eine böse Frau. Wenn ich Möhren und Sellerie esse und hungere, bin ich eine gute Frau.

Woher rührt diese Verbindung von Essen und Moral?

Das geht sehr weit zurück, bis zu den judeo-christlichen Wurzeln in der Bibel, Völlerei als Sünde und so weiter. Ich habe ziemlich viele Studien zu Dicksein und Völlerei gelesen. Das Interessante ist: In der Gegenwart ist das natürlich ein Widerspruch in unserer Gesellschaft. Einerseits sollen wir bitte niemals aufhören zu konsumieren, wir produzieren massenweise Müll, kaufen uns jeden Schrott. Anderseits moderieren wir das, in dem wir in Bezug auf unseren Essenkonsum ausrasten.

Die Filmemacherinnen Lindsey Averill (links) und Viridiana Liebermann (Foto: Filmstill der Kickstarter-Kampagne)

Und woher rührt der Mythos der lustigen Dicken?

Ich denke da immer an den Weihnachtsmann, aber keine Ahnung. Spätestens seit den 1950er Jahren sieht man dieses Bild überall.

Welche Art von Charakteren würdest Du Dir noch wünschen?

Ich würde mir wünschen, dass die große Vielfalt der menschlichen Erfahrung auch von dicken Menschen abgebildet werden kann. Ich wünsche mir Charaktere, die zwar dick sind, aber bei denen das nicht im Fokus steht, sondern ihr Job, ihre Beziehungen. Charaktere, die sich mit ihren Körpern wohlfühlen dürfen, bei denen nicht mehr impliziert wird, dass sie ein Problem mit ihrem Dicksein haben. In Deutschland gab es vor kurzem diese Komödie, „Die Friseuse“

… von Doris Dörrie, ja. Da wurde allerdings zurecht kritisiert, dass die Hauptdarstellerin Gabriela Maria Schmeide ein Fettkostüm trägt – als gäbe es nicht genug dicke Schauspielerinnen, die diese Rolle spielen könnten.

Ja, das war auf jeden Fall beleidigend. Aber es gibt eine Szene in dem Film, in der sie einfach in der Dusche steht und ihre Haare wäscht. Die Kamera fuhr nicht in irgendeiner grotesken Weise über ihren Körper, es wurde nicht weiter kommentiert. Es war einfach eine normale Frau, die ihre Haare wäscht und durch den Tag geht. Ich weiß noch, dass ich dachte: Wenn das jetzt eine Filmszene mit einer tatsächlich dicken Schauspielerin wäre – das wäre die Szene!

Klar gibt es in dem Film auch abwertende Szenen, aber es gab zumindest Momente, in denen ich rief: Ja. Diese Frau versteckt sich nicht, sie geht raus, sie macht sich selbstständig, sie geht tanzen und lernt Männer kennen. Wo sehen wir denn sonst bitte solche Darstellungen dicker Frauen.

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