Es gab eine Zeit, als Frauen sich in der chinesischen Provinz Hunan heimlich verständigen mussten. Mit einer Sprache, die erst vor 30 Jahren entschlüsselt werden konnte. Yang Huanyi war die letzte Frau, die Nushu noch beherrschte.
Von Sandy Schmied

Bild: Wikipedia

Als die Welt zu ihr nach China kommt, ist Yang Huanyi weit über 80 Jahre alt. Das Leben hat ihr tiefe Furchen in die Haut geschlagen, die Augen sind trüb, aber wach. Die schmalen Lippen, die als Frau zu oft hatten verschlossen bleiben müssen, sind bereit, Vergangenes zurück ans Tageslicht zu bringen. Aber es sind ihre Hände, die WissenschaftlerInnen und JournalistenInnen um die Jahrtausendwende ins entlegene Jiangyong reisen lässt. Yang Huanyi ist die letzte Verbliebene, die jene geheime Schrift beherrschte, die ausschließlich von Frauen verwendet wurde und deren Bedeutung den Männern lange Zeit verborgen blieb.

Nushu, übersetzt: Frauenschrift, wurde schon seit dem 15. Jahrhundert von den Einwohnerinnen der Provinz Hunan von Generation zu Generation weitergetragen. Sie war in einer Art Notwehr gegen die Konsequenzen aus Unterdrückung, Zwangsheirat und verschnürten Füßen entstanden, ein Ventil, um in einem Bund der Schwurschwesternschaft aufgestauter Wut, Trauer und Angst freien Lauf zu lassen. Damit ihre Geheimnisse nicht entdeckt wurden, schrieben sich die Frauen kurze Botschaften in ihre Handflächen und auf Papierfächer oder stickten sie unbemerkt in Kleidung und auf Taschentücher. In kleinen Büchlein und Briefen teilten sie ihre Sehnsüchte und Probleme in der Ehe, gaben sich Schönheitstipps oder schimpften einfach mal ordentlich über die garstigen Schwiegereltern.

Auch Yang Huanyi hatte genug zu erzählen. Von ihrem ersten Mann, der schon früh in der Ehe nach einem Schlangenbiss starb. Oder dem zweiten, der ein notorischer Spieler war und regelmäßig die Schweine und das Getreide der Familie an seine Gläubiger verscherbelte. Von ihren acht Kindern erreichten nur drei das Erwachsenenalter, auch weil die Familie zu arm war, um das Geld für Medikamente aufzubringen. Für Yang Huanyi bedeutete Nushu so vor allem auch einen Weg aus dem Kummer und den Rückschlägen ihres langen Lebens.

Heute sind etwa 1500 Nushu-Zeichen und 20 000 Wörter bekannt. Sie wurden vor mehr als 500 Jahren in Anlehnung an die chinesische Schriftsprache geschaffen, in einer Zeit, in der Frauen weder lesen noch schreiben konnten und starre Traditionen wenig Raum boten, um sich über alltägliche Probleme auszutauschen. Selbst viel später, Mitte des 20. Jahrhunderts, hatte Nushu noch nichts von seiner Rätselhaftigkeit verloren. In den 1960er Jahren wurden bei einer alten Frau, die auf der Straße zusammengebrochen war, Nushu-Aufzeichnungen entdeckt. Weil niemand die Schrift kannte und entschlüsseln konnte, wurde sie kurzerhand als Spionin ins Gefängnis gesteckt.

Erst in den frühen 1980er Jahren konnte die Schrift von WissenschaftlerInnen systematisch erforscht werden – und mit ihr entdeckten sie auch die letzten Frauen, die Nushu genutzt hatten, um sich selbst eine Stimme zu geben. Als Yang Huanyi vor zehn Jahren starb, starb mit ihr ganz leise auch das letzte verbliebene Stück Rebellion der Frauensprache. Heute ist Nushu Geschichte anstatt Alltag.

Steckbrief Yang Huanyi

Geboren: unbekannt, ca. 1909
Gestorben: 20. September 2004
Bekannt: als letzte Anwenderin der Frauenschrift Nushu
Hätte bekannt werden müssen: als unverwüstbare Kämpferinnennatur