Im Film „Qissa – Der Geist ist ein einsamer Wanderer“ lastet das Glück des Vaters auf den Schultern des Sohnes. Doch den gibt’s nicht – so wird das Mädchen zum Jungen Kanwar erzogen. Das macht sein Leben kompliziert und bedroht es schliesslich gar.

„Eine Tochter ist auch ein Segen“, meint eine Frau zu Mehar, als Kanwars Mutter sie zur Welt bringt. Ihr Mann Umber Singh (Irrfan Khan, u. a. „Slumdog Millionär“) sieht das nicht so und quittiert die Geburt ihres gemeinsamen Kindes mit: „Ich habe genug Mädchen gesehen“. Es ist das Jahr 1947, Mehar und Umber sind Sikhs und sie leben in der Provinz Punjab, die gerade zwischen Indien und Pakistan aufgeteilt wurde. Ohne Sohn fühlt sich Umber nicht als vollwertiges Mitglied seiner Gemeinde und der patriarchal geprägten indischen Gesellschaft.

Das vierte Kind muss ein Junge sein. Von dieser Idee ist Umber besessen und so beginnt für Kanwar, seinen Sohn, der als Mädchen zur Welt kommt, ein Leben voller Fragen nach der eigenen Rolle und Herkunft. Das ganze Glück seines Vaters lastet auf Kanwars Schultern. Seinem Körper wird die Weiblichkeit abtrainiert, seinem Auftreten die Männlichkeit anerzogen. Auch das Einsetzen der Pubertät ändert nichts daran.

Als Kanwar heiratet, gibt’s Probleme: Neeli, ein Mädchen aus einer niedrigeren Kaste, nimmt ihre ungewöhnliche Ehe nicht schweigend hin. Es entfaltet sich ein Drama um Identitäten, die gleichsam konstruiert und gewahrt werden sollen. Dieses Drama erzählt Regisseur Anup Singh eindringlich und in bedrohlichen Bildern. In jedem Moment kann der Schwindel auffliegen und die Existenz von Kanwar und Neeli zusammenbrechen.

Die Geschichte, oder auch das Märchen – was „Qissa“ aus dem Arabischen übersetzt bedeutet – spielt vor dem Hintergrund der indischen Teilung. Kanwars Eltern werden aus ihrem Dorf vertrieben. Das Leben der Familienmitglieder spielt zwischen der alten und der neuen Heimat und in Landschaften, die surreal, beinahe gespenstisch wirken. Und wirklich gespenstisch wird es als ein Geist auftaucht, dem die Reinkarnation vergönnt bleibt.

„Qissa – Der Geist ist ein einsamer Wanderer“ folgt Kanwar, wie er/sie das ganze Leben lang unter dem Druck von Familie, Gemeinde und Ehefrau mit der Frage ringt, welche Rolle er/sie ausfüllen will und kann. Mit Fokus auf diesen persönlichen Kampf hat Regisseur Anup Singh ein spannendes Drama geschaffen, das einen außergewöhnlichen Blick auf den Konflikt zwischen Konstruktion und Performance von Identitäten wirft.

„Qissa – Der Geist ist ein einsamer Wanderer“ DE/FR/IN/NL 2013. Regie: Anup Singh. Mit: Irrfan Khan, Tillotama Shome, Rasika Dugal u.a., 105 Min., ab jetzt im Kino.

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