Ein halbes Jahr haben Anna Fries, Laura Naumann, Marielle Schavan und Sophia Schroth alias Henrike Iglesias recherchiert. Sie führten Gespräche mit Sexworkerinnen, mit Mitarbeiterinnen von Beratungsstellen für Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution, mit einer ehemaligen „Germany’s Next Topmodel“-Kandidatin und der Soziologin Christiane Howe, deren Forschungsschwerpunkt Sexarbeit ist. Letztere wusch den vier Performerinnen erst einmal den Kopf, wie sie im Gespräch mit MISSY erklären.

Schauspiel Leipzig I can be your hero baby Henrike Iglesias Von und mit: Anna Fries, Hanne Lauch, Laura Naumann, Marielle Schavan und Sophia Schroth
Foto: Rolf Arnold

Howe geht es um eine Sensibilisierung im Umgang mit den Begriffen, um eine Unterscheidung zwischen Zwangsprostitution, die illegal ist, und legaler Prostitution. Die Komplexität des Themas zeigte sich auch in den Recherchen der vier Performerinnen, die allesamt in Hildesheim studiert haben oder bald dort ihren Abschluss machen. „Es kommt immer auf die Person an, die es macht“, sagt Anna Fries. Sie sammelten Aussagen aus den Gesprächen mit Sex-Hotline-Mitarbeiterinnen und Prostituierten – diese zahlreichen und unterschiedlichen Blickwinkel lassen sich nun auch im Stück erkennen.

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Gleichzeitigkeit der Blickwinkel

In einer lustigen Szene kommt beispielsweise eine EMMA-Abonnentin im 12. Jahr zu Wort, die nun aus eigener Entscheidung einer Sexarbeit nachgeht und dabei unter anderem als Domina arbeitet. Als sie dies der EMMA-Redaktion schreibt, erhält sie eine zweizeilige Antwort mit dem Hinweis: Sie sei „bestimmt persönlich verwirrt“. Während des Monologs bohrt, steckt und stößt sich per Videoprojektion eingeblendet eine der anderen Performenerinnen den Finger in alle möglichen Öffnungen des Gesichts – die Assoziation ist nur allzu deutlich.

Dennoch zeichnen solche Gleichzeitigkeiten der Blickwinkel die Stärke des Stücks aus – das Kollektiv will hier nicht eindeutig werten. Vielmehr werden die Stimmen der Sexworkerinnen zur Diskussion gestellt. Unterbrochen sind die szenischen Einlagen von Laufsteg-Walks zu elektronischen Beats in Schikanen-haften Kostümen. Kurzweiliges wechselt sich so mit schwer Verdaulichem ab wie den Aussagen einer Sex-Hotline-Angestellten: Fast jede erdenkliche Sex-Phantasie hat sie schon am Telefon befriedigt – ausser den zahlreichen „pädophilen Wünschen, die haben wir nie gemacht.“

Schauspiel Leipzig I can be your hero baby Henrike Iglesias Von und mit: Anna Fries, Hanne Lauch, Laura Naumann, Marielle Schavan und Sophia Schroth
Foto: Rolf Arnold

Im Kontrast zur Abbildung dieser Komplexität steht Henrike Iglesias’ Darstellung der Model-Castingshow GNTM – sie kommt bei ihnen durchs Band schlecht weg. Während sich die Realität selten nur über einen Kamm scheren lässt, handelt es sich in Castingshows, wenn überhaupt um „scriptet reality“. Und bei GNTM ist die viel schlimmer, als sie am Fernsehen aussieht. Während GNTM Quotenerfolge feiert, werden Sexarbeiterinnen in weiten Teilen der öffentlichen Debatte stigmatisiert. Marielle Schavan fasst diese Doppelmoral der Gesellschaft so zusammen: „Im Fernsehen werden Dinge positiv umgedeutet, die in anderen Bereichen kritisiert würden.“

Neben dem Studium der Fernsehstaffeln von GNTM konnten die Theatermacherinnen auf Facebook auch eine ehemalige Protagonistin erreichen. Sie hatte sich aus den Schweige-Verträgen gelöst und sprach offen mit den Performerinnen. Die meist minderjährigen Frauen werden zu allererst mit einem Knebelvertrag ihrer Privatsphäre beraubt und willigen ein, auf 60 Prozent allfälliger Einnahmen zu verzichten. Danach schaffen die ProduzentInnen bewusst Stresssituationen, um die Frauen zum quotenbringenden Zickenterror zu treiben: Sie nehmen ihnen zeitweise ihre Handys weg, geben ihnen stundenlang nichts zu trinken und zu essen – und halten dabei die Kamera immer dicht drauf.

Tonaufnahmen auf der Toilette

Angekommen in der „Model-Villa“ werden die Kandidatinnen in allen Räumen gefilmt, bis auf die Toilette und dem Telefonzimmer. Erst später wurde der genannten Teilnehmerin jedoch gesagt, dass in letzterem Tonaufnahmen stattfanden – um sie beim Lästern über andere Kandidatinnen zu belauschen. Im Finale wussten dann die drei Finalistinnnen bereits, wer gewinnt. Heidi Klum servierte die ausscheidende Kandidatin ab, um sie danach nochmal ohne ihre Anwesenheit für die Kamera zu beleidigen – gesendet wurde die zweite Aufnahme.

Den Gründen für die Erfolge und die Beliebtheit von GNTM wird zwar nicht nachgespürt, dennoch kommen hier abgründige Einzelheiten der Casting-Realität im deutschen Fernsehen ans Licht. Es zeigen sich erstaunliche Parallelen zwischen dem Sexgewerbe und der Fernsehshow. Diese werden jedoch durch die Cat-Walk- und Video-Sequenzen immer wieder gebrochen. Damit ist „I Can Be Your Hero Baby“ kein Lehrstück und keine plumpe Anklage. Denn am Ende ist man damit als Zuschauer_in vor allem auf sich selbst zurück geworfen.

Henrike Iglesias: I Can Be Your Hero am 29. und 30.04. und am 02.05. in den Sophiensaelen, Berlin.