Über Grenzen hinweg
Von
Von Birke Carolin Resch und Tai Linhares
Alle Blicke sind gebannt auf die Bühne gerichtet. Die Frau, die dort spricht, macht gerade eine rhetorische Pause. Dann hebt sie die Stimme: “In den Medien wird nicht oft erwähnt, dass die Organisatoren der Proteste Frauen sind.” Die Zuschauer klatschen. “Schwarze Frauen.” Das Klatschen wird lauter. “Schwarze queere Frauen.” Tosender Applaus. Wenn Angela Yvonne Davis, US-amerikanische Bürgerrechtlerin und ehemalige Black Panther-Aktivistin, auf der Bühne steht, hängt ihr das Publikum an den Lippen. Sie wählt die richtigen Worte, um den Saal zu fesseln, Worte, die heute noch genauso wahr sind wie vor 40 Jahren, als sie zur Ikone der Bewegung für die Rechte von politischen Gefangenen und Schwarzen wurde.
Heute, an einem Vatertag nachmittags in Berlin-Neukölln, haben sich etwa 200 Aktivist_innen, mehrheitlich Schwarze Frauen, in der Werkstatt der Kulturen versammelt, um ihr zuzuhören. Die 71-Jährige ist gekommen, um mit ihnen über einige der dringlichsten Fragen des 21. Jahrhunderts zu diskutieren, um sich auszutauschen und um transnationale Kontakte zu knüpfen. Berlin spielt dabei eine wichtige Rolle.
Die Themen sind zum Teil immer noch dieselben wie zu den Zeiten, als Davis noch als Mitglied der Black Panther-Bewegung für ein gerechteres Amerika kämpfte: Es geht um Frauenrechte, rassistisch motivierte Polizeigewalt und willkürliche Gefängnisstrafen, wie sie der ehemalige Black Panther-Aktivist Mumia Abu-Jamal immer noch in den USA aussitzt. Die Initiative „Freiheit für Mumia Abu-Jamal“ engagiert sich bis heute unermüdlich für dessen Freilassung. Und es gibt neue Themen, die erst in den letzten Jahrzehnten mit einer solchen Dringlichkeit ins öffentliche Bewusstsein gedrungen sind.
Eines davon, das „Thema unserer Zeit“ wie Angela Davis eingangs sagt, ist die Geflüchtetenbewegung. Dieses Thema, betont sie, gehe uns alle an. Flüchtlinge gäbe es nicht nur in Europa und in den USA, sondern überall auf der Welt wie beispielsweise in Südamerika und Afrika.
Auf ihrer Reise durch Europa besuchte die Bürgerrechtlerin gemeinsam mit ihrer Begleiterin Gina Dent, Antirassismus-Forscherin und Professorin für Feministische Studien an der Universität von Santa Cruz, Kalifornien verschiedene von Geflüchteten gegründete Initiativen und Vereine und ließ sich erzählen. Von der Verzweiflung. Von den vielen Freund_innen und Familienmitgliedern, die während der Überfahrt ertranken. Von den schwierigen bis katastrophalen Bedingungen nach der Ankunft. In Frankreich sagte ihr ein geflüchteter Mann, das Mittelmeer sei ein afrikanischer Friedhof.
Auch in Berlin wollte Angela Davis sich mit VertreterInnen der Refugee-Bewegung treffen, doch der Besuch in der von Geflüchteten besetzten Gerhart-Hauptmann Schule in der Ohlauer Straße wurde ihr kurz vor der Ankunft von der Bezirksstadträtin Jana Borkamp (Grüne) verweigert. Angeblich, weil es keine konkreten Hilfspläne gebe und „einfach vorbeischauen“ zu wenig sei, so Bezirksamtssprecher Sascha Langenbach. Laut der Antirassismus-Initiative „ReachOut“ fanden im Frühling mehrere genehmigte Treffen zwischen Geflüchteten und Kirchenvertretern in der Schule statt. Der Bezirk tat das Treffen mit Angela Davis jedoch als „PR-Gag“ ab, der nur Bilder produzieren solle.
Davis kommentiert die Entscheidung, als ein Geflüchteter auf die Bühne tritt und die Situation erklärt, mit der Frage: „Wird die Schule als Gefängnis betrachtet?“.Auf der einen Seite die schier unvorstellbaren Grauen im Mittelmeer, die auswegslose Situation der Flüchtenden, auf der anderen Seite Behörden und Regierungen, die Grenzen errichten, einschränken, verbieten, anstatt zu helfen.
Eine lateinamerikanische Frau tritt auf die Bühne. Sie stellt eine wichtige Frage: “Warum werden die weißen, coolen Leute, die nach Berlin ziehen, nicht Migrant_innen genannt?” weiße zugezogene Berliner_innen gelten als “Expats”, ihr Aussehen und ihre Nationalität gewähren ihnen in einer globalen Welt maximale Bewegungsfreiheit. Die Situation in den USA sei die gleiche, so Davis. Europäische Student_innen würden in die USA einreisen und sich dann entscheiden, dort zu bleiben. Niemand hinterfrage ihre Entscheidung oder bezeichne sie als „gefährliche Migrant_innen“. Mexikanische Einwander_innen dagegen seien niemals willkommen, unabhängig davon, was sie in den USA täten. Das Absurde daran sei, so Davis, dass im globalen Kapitalismus Güter wie Wissen, Geld und Bildung sich frei bewegen könnten, während Menschen, wenn sie dieselben Grenzen passieren wollten, illegal genannt würden.
Eines wird schnell klar an diesem Tag: Es besteht Redebedarf. Die Aktivist_innen wünschen sich von der berühmten Menschenrechtlerin Unterstützung, Ratschläge und Geschichten aus ihrem reichen Erfahrungsfundus. Doch während des zweistündigen Treffens können die Themen nur angeschnitten werden, die Zeit reicht nicht annähernd, um alle Fragen und Kommentare ausführlich zu beantworten. Und obwohl jedes einzelne Thema für sich allein komplex und oft sehr schwer ist, wird auch gelacht, gibt es positive und motivierende Ansätze.
So wie die zu Anfang erwähnten Schwarzen Frauen, die ausharrten und mobilisierten, damit die antirassistischen Proteste in den USA nicht im Sande verlaufen und vergessen werden. Sie sind das Besondere an dieser neuen Art der Bewegung, zu der zum Beispiel die nach dem Tod von Trayvon Martin gegründete Initiative “Black Lives Matter” zählt: Die jungen, engagierten Aktivist_innen sind extrem vernetzt, ihr Erfolg basiert auf der Kollektivität, der vereinten Kraft von Potenzialen und Erfahrungen.
Viele Leute fragten, wo denn der Anführer der Proteste sei, erzählt Angela Davis. “Sie erwarteten eine männliche, charismatische Figur, einen neuen Martin Luther King oder einen neuen Malcolm X. Sie verstehen nicht, dass die an der Organisation beteiligten Frauen dabei sind, neue, kollektive Führungsstrukturen zu entwickeln.” Die herausragende Arbeit dieser Frauen fände sie beeindruckender, so Davis, als das, was sie mit ihren Mitstreiter_innen vor 40 Jahren gemacht habe.
Das erinnert an die Refugee-Bewegung in Deutschland und Europa, die in den letzten Jahren immer selbstbewusster, immer lauter und immer dringlicher ihre Rechte eingefordert hat. Das Schwierige daran ist der Balanceakt zwischen Kollektivität und Individualität. Die Vielstimmigkeit zu erhalten und doch mit einer vereinten Stimme zu sprechen ist die Herausforderung, vor der die Bewegung steht.
Dass dieses Treffen am Vatertag stattfindet, ist natürlich symbolträchtig. Als gebürtige Brasilianerin und Mitautorin dieses Artikels musste ich mich über die deutschen Rituale am Ehrentag der Väter und Männer erst auf Wikipedia informieren. Dort steht, dass die männlichen Familienmitglieder meist eine Wanderung oder einen Ausflug unternehmen. Da während der Unternehmung in der Regel viel Alkohol konsumiert wird, erhöht sich die Zahl der Schlägereien und Verkehrsunfälle. Während draußen, in der Bundesrepublik Deutschland, auf diese Weise vornehmlich weiße Männer das Mannsein zelebrieren, sitzen also hier im Saal Schwarze Frauen und denken darüber nach, wie jahrhundertealte Unterdrückungsmechanismen überwunden werden können.
Am Ende der Veranstaltung will keine_r aufhören zu reden. Deshalb sagt Davis zum Schluss: „Ich hoffe, ihr werdet euch weiterhin treffen und diese Fragen diskutieren. Ihr braucht dazu niemanden von Außen.“ Begeisterter Applaus. Wichtig ist, dass die Aktivist_innen weitermachen, wie auch immer und wo auch immer sie sind, das ist die Botschaft.