Von Claire Horst

„Willst du nur mit Françoise sprechen oder mit uns beiden?“ Brezel Göring, die eine Hälfte von Stereo Total, hat gerade Kaffee gebracht und sich für die nicht passende Blümchen-Untertasse entschuldigt, da will er sich schon wieder aus der Küche der beiden verdrücken. „Die meisten interessieren sich mehr für Françoise“, meint Brezel – sie sei ja auch das Besondere an der Band. Süße Zurückhaltung. Bei der Zusammenarbeit habe er diese allerdings nicht, sagt Françoise Cactus, die sich jetzt zu uns gesetzt hat.

© Cabine
Teilen Band und Badewanne miteinander: Françoise Cactus und Brezel Göring. © Cabine

Nur das Schreiben von Musik und Lyrics übernehme meistens sie – aus ihren Vorlagen entwickeln sie dann zusammen die Songs. Aus einem der hohen Regale voller Bücher und Platten holt sie jetzt eines der dicken, ganz dünn linierten Schulhefte, die sie dafür aus Frankreich mitbringt. Es müssen diese französischen Klötze sein, und acht davon hat sie schon bis zum Rand gefüllt. Das sei ihre Rentenversicherung: „Manche Bands haben überhaupt keine Idee, worüber sie schreiben sollen. Ich mache eine kleine Boutique auf und verkaufe denen meine Texte: Liebeslieder, Sexlieder.“

Gedanken an die Rente? Ernsthaft? Die neue Platte heißt „Les Hormones“, besungen werden Komplexe und Schönheitsideale, das verwirrte Aufwachen neben einer unbekannten Person, miese Erziehungsmethoden. Eher eine Auseinandersetzung mit der Pubertät als mit dem Älterwerden also. Das passt aber beides zusammen, sagt Françoise: „Bei jeder Platte kommen ein paar neue Themen dazu, wie jetzt mit ‚Doktor Kaktus‘ die Hypochondrie. Früher habe ich nie über Krankheiten geschrieben. Wenn ich mich jetzt mit meinen Kumpels treffe, heißt es immer: Ah, mir tut das weh!“ Sie stöhnt theatralisch.

Trotzdem: Themen wie Minderwertigkeitsgefühle und Liebeskummer bleiben relevant. Sie fühle sich immer noch wie ein Teenager, meint Françoise, „obwohl ich schon so alt bin. Ich habe nichts aus meinen Fehlern gelernt.“ „Für immer 16“ heißt ihr fast fertiges neues Buch, und für sie ist das eine positive Vorstellung: „Ich mag es nicht, wenn Leute immer weniger erleben wollen, weil sie von Angst zerfressen sind. Deshalb gehe ich auch nicht mit alten Typen aus.“ Zur Illustration klagt sie mit verstellter Stimme – ein Gespräch mit ihr fühlt sich streckenweise an wie die Teilnahme an einem ziemlich lustigen Theaterstück: „Oh nein, das hatte ich schon mal, das will ich nicht nochmal erleben!“

Umso besser gefällt ihr, wenn sich junge Frauen mit ihren Texten identifizieren können. „Zu schön für dich“, der Opener des aktuellen Albums, beschreibt die idiotisch hochgeschraubten Erwartungen an ihr Äußeres, denen Frauen unterworfen sind. „Auch wenn der Junge ein Junge ist, sind wir eine feministische Band“. Der Junge, das ist Brezel Göring. Aber was heißt das? Die Antwort kommt gesungen: „It’s a man’s world“ – sich als Frau in der männlich dominierten Musikwelt zu behaupten, schon das allein ist für Cactus ein feministischer Kraftakt.

Bei ihrer ersten Band, den „Lolitas“, musste Françoise Cactus sich als Musikerin gegen den Widerstand der Bandkollegen durchsetzen: „Die haben mich die ganze Zeit genervt, bei jeder Scheißprobe haben die einen neuen Schlagzeuger angeschleppt. Aber ich war stur: Wenn ich nicht Schlagzeug spiele, dann singe ich auch nicht. Ich glaube, wenn frau Musik machen will, muss sie stur sein.“

„Der Junge“ ist hier vollkommen auf ihrer Seite: Als Produzent arbeitet Brezel Göring viel lieber mit gemischtgeschlechtlichen oder Bands ohne Männer. Denn spannend wird es in seinen Augen erst, wenn Bands kein festes Konzept haben, Neues ausprobieren, und das trauten sich Frauen oft. „Männer geben gern ein bisschen an, schmeißen ein super Solo hin, um zu gefallen“, meint Françoise. Musikalisch überraschende Instrumentalist*innen finden beide viel spannender. Und die richtige Einstellung, sagt Brezel: „Ich habe schon mit Bands geredet, die gerade erst anfingen, und gedacht: Das ist ja fürchterlich, die reden ja wie Schallplattenfirmenangestellte“.

Pochettes OKNach sage und schreibe 21 Jahren Bandgeschichte ist jetzt das 14. Album des deutsch-französischen Elektropopduos erschienen.
Stereo Total „Les Hormones“, staatsakt.

Auf den Erfolg geschielt haben Stereo Total nie. Ihre Nebenprodukte wie BZ-Skandalmodell und Buchautorin Wollita, die im Nebenzimmer in ihrer ganzen Häkelschönheit auf dem Sofa sitzt, Soundtracks und Hörspiele bedienen genauso ein Spartenpublikum wie die gemeinsame Musik. Zielgerichtet ist vielleicht nur die Sprachenvielfalt: „Zuerst wollten wir in Japan spielen, also machten wir ein japanisches Lied.“ Lieder auf Italienisch, Spanisch, Türkisch und Russisch kamen dazu, für Françoise eine Form der Grenzüberschreitung. Auch auf „Les Hormones“ finden sich wieder Songs in vier Sprachen.

Vielleicht liegt es an der anhaltenden Experimentierfreude der beiden, dass die Zusammenarbeit so gut klappt. [sam id=5 codes=’true‘]Seit 1993 bilden sie ein Paar und auch eine Band – zwischendurch mit den Kolleg*innen Angie Reed und San Reimo, seit vielen Jahren wieder nur zu zweit. Und das, obwohl die Zweierkiste zu den Themen gehört, an denen sie sich immer wieder aufreiben – Songs wie „Liebe zu dritt“ zeugen davon. Aktuell arbeiten sie an einem anderen Projekt: an der Filmmusik zu einer philippinisch-indischen Produktion. Von Bollywood inspiriert soll sie werden. Wird schon passen. Mindestens so gut wie die Blümchen-Untertasse.

Missy präsentiert: Stereo Total vom 30.03.–24.04. auf Tour. Alle Termine gibt’s auf stereototal.de.