Von Maxi Braun

Als Synonym für die Vernichtung der europäischen Juden ist Auschwitz längst Teil unseres kollektiven Gedächtnisses. Das einzige Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück in Brandenburg blieb von der Holocaust-Forschung lange Zeit unbeachtet und ist auch heute weniger bekannt. Von 1939-1945 wurden hier je nach Zählung ca. 40.-50.000 Frauen getötet – durch Hunger, Kälte, Seuchen, Zwangsarbeit, drakonische Strafen, medizinische Experimente, Erschießungen, Gift und ab 1942 auch durch Gas. Leser*innen der „Lagerbiografie“ der britischen Journalistin Sarah Helm wird Ravensbrück als Chiffre für die systematische Vernichtung von Frauen während des Zweiten Weltkriegs durch die Nationalsozialisten im Gedächtnis bleiben.

Sarah Helm © Barney Jones Photography
Sarah Helm © Barney Jones Photography

Basierend auf subjektiven Erinnerungsfragmenten von Überlebenden aus ganz Europa, die Helm zu Anfang ihrer Recherche ausfindig machte und interviewte, wie auch anhand erhaltender Quellen schildert sie den Alltag im Lager, der steig unmenschlicher und unberechenbarer wird.

Für ihre Gliederung orientiert sich Helm an der Chronologie der Ereignisse während des Krieges und über die Befreiung hinaus, aber auch an der Kategorisierung der Nationalsozialisten für verschiedene Häftlingsgruppen.
 Sogenannte „Asoziale“ (darunter Obdachlose und Prostituierte), Politische (z.B. Widerstandskämpferinnen und Rotarmistinnen), Jüdinnen, oder Zeuginnen Jehovas.

Die Frauen kamen auch aus Deutschland nach Ravensbrück, vor allem aber aus Polen und Tschechien, später auch aus westeuropäischen Ländern wie Frankreich, Skandinavien und Großbritannien. Auch die Geschichten von niedrigem bis hochrangigem SS-Personal oder Besuche von „Prominenten“ wie Himmler erzählt Helm aus Sicht der Häftlinge.

Generell waren die hygienischen Bedingungen und die Lebensmittelversorgung in Ravensbrück wie in allen KZs katastrophal. Die Baracken waren chronisch überfüllt, die Fenster kaputt, die Kleidung unzureichend. Seuchen und Läuse breiteten sich ungehemmt aus, während zum Schein rote Blumen zwischen den Blocks erblühten.

Die spezifischen Besonderheiten und Probleme eines reinen Frauenlagers werden anhand der Zustände in Ravensbrück aber besonders deutlich. Sexuelle Nötigung, aber auch freiwillige lesbische Sexualität der Gefangenen untereinander kamen häufig vor. Die Periode blieb bei allen Frauen durch Stress und Mangelernährung irgendwann aus.

Viele Frauen kamen aber bereits schwanger ins Lager, weil sie [sam id=“5″ codes=“true“]von der Verhaftung überrascht oder auch kurz zuvor Opfer von Vergewaltigungen gewesen waren. Schilderungen von Sterilisation, Abtreibungen oder die brutale Tötung von Säuglingen bzw. auf den Tod zielende Vernachlässigung der Neugeborenen, die die entkräfteten Mütter hilflos mit ansehen mussten, gibt Helm in einem ausführlichen Kapitel Raum.

Soziale Konflikte wie Streit, Neid und Verrat unter den Gefangenen oder Misshandlung durch mit der SS als Gegenleistung für bessere Haftbedingungen kooperierende Insassinnen sind hingegen als geschlechtsunabhängiges Phänomen auch aus anderen Lagern bekannt. Ebenso gab es auch in Ravensbrück Menschen, die sich für andere einsetzten und opferten, Widerstand leisteten und nicht bereit waren, sich kampflos in ihr Schicksal zu fügen. Viele schmuggelten unabhängig voneinander Beweise für die an ihnen begangenen Verbrechen an die Außenwelt.

Mit besonderer Sympathie schildert Helm die Stärke und den Überlebenswillen der sogenannten „Kaninchen“. Meist waren es Polinnen, an denen sinnlose und kaum zu beschreibende medizinische Experimente verübt wurden – bewusste Infektionen, Knochenbrüche oder die Entfernung von Muskeln sowie offene Wunden töteten viele von ihnen. Wer diese Tortur verstümmelt überstand, lebte bis zum Ende des Lagers in ständiger Gefahr, als „Beweismittel“ für diese Experimente getötet zu werden.

© Konrad Theiss VerlagSarah Helm
„Ohne Haar und ohne Namen. Im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück“ aus dem Englischen von Martin Richter, Annabel Zettel und Michael Sailer.
Theiss, 802 S., EUR 38,00

Die freiberufliche Journalistin, deren vorheriges Buch sich mit der britischen Geheimagentin Vera Atkins beschäftigt, die auch bei der Aufklärung der Verbrechen von Ravensbrück eine Rolle spielte, verfolgt mit ihrem Buch keinen wissenschaftlichen Anspruch. Akkurat recherchiert ist ihr Mammutprojekt dennoch. Neben den Interviews im Stil der Oral History hat sie Archive besucht und liefert neben einer umfassenden Bibliografie und einem Index auch einen Fußnotenapparat. Ob die Angaben geschichtswissenschaftlichen Standards gerecht werden, müssen HistorikerInnen beurteilen. Aber selbst in der Thematik versierten LeserInnen bietet „Ohne Haar und ohne Namen“ einen neuen und stellenweise kaum zu ertragenden Zugang zu der Geschichte des KZ Ravensbrück, in denen unzählige tragische und ganz wenige glücklich endende Einzelschicksale Gehör finden.

Nach der Lektüre geht es uns wie den Richtern der Hamburger Prozesse 1946 gegen  KZ-Personal (weniger bekannt als die Nürnberger Prozesse), über die ein britischer Kriegsverbrechens-Ermittler sagte: „Die Vernunft der Richter erkennt die Beweismittel an, aber ihre Fantasie schreckt davor zurück.“