Von Nadja Schaetz

Nur Momente nach dem Selbstmordanschlag in Istanbul am vergangenen Samstag bin ich darüber durch eine Nachricht alarmiert worden. Eine Frau hörte die Explosion von ihrer Wohnung aus, die nicht weit entfernt war, und warnte uns andere. Wir, das sind die Mitglieder einer Facebook-Gruppe für ausländische Frauen in Istanbul.

How I learned about the power of Sisterhood in a Facebook group of foreign women
Sisterhood is powerful. ©Flickr/Wrote/CC BY 2.0

Laute Geräusche sind nicht ungewöhnlich in dieser Stadt. Gerüchte über Terroranschläge und mögliche Angriffsziele kursierten die letzten Tage in der Facebook-Gruppe und hinterließen eine angespannte Stimmung. Die schnell verbreiteten Nachrichten der Facebook-Posts sind manchmal schwierig einzuordnen. Jeder besitzt ein weiteres Stück Information, oft bevor diese durch die Medien bestätigt werden können. Mitteilungen von Leuten, die im Konsulat arbeiten, bei der Armee, in politischen Organisationen oder Schulen formen ein eng geknüpftes Netz aus Quellen.

Die ausländischen Frauen von Istanbul schwanken zwischen dem Entschluss, so viele Informationen wie möglich untereinander auszutauschen und zu sammeln (da auch der Berichterstattung türkischer Politik schwer zu trauen ist) und dem Versuch, die Panik nicht weiter zu schüren. Gerüchte verbreiten Angst, da sind wir uns alle einig.

Aber das hier ist nicht nur ein Gerücht.

Die junge Frau, die die Explosion hörte und uns sofort warnte, hatte recht. In Istanbuls größter Einkaufsstraße wurden durch einen Selbstmordanschlag fünf Menschen getötet und mehr als zwanzig verletzt. Doch das würden wir erst später erfahren. Was wir nur Momente nach dem Vorfall wissen ist, dass die Frau, die uns warnt, aus Syrien kommt. Und sie sagt, sie weiß wie Bombenexplosionen klingen. Was sie uns bestätigen kann ist, dass sie dieses Geräusch nicht vergessen wird. Und daher ist sie sich sicher, dass sie sich nicht irrt – das war nicht irgendein Knall, kein belieber Stadtkrach. Was für eine düstere Kompetenz.

In den Stunden nach dem Anschlag rinnen immer mehr Information durch die Timeline. Ein Foto von einem Dokument, das alle Namen der Opfer auflistet und in welchen Krankenhäusern sie stationiert sind, Gebiete, die mit Helikoptern durchsucht werden, Straßenkämpfe in anderen Stadtteilen. Eine junge Lehrerin aus den USA, die in einer Schule in der Nähe arbeitet, berichtet, dass sie in Sicherheit ist, aber ihre Schüler aufgewühlt sind. Alle wünschen sich gegenseitig Sicherheit. Sicherheit ist ein Schlüsselwort der Gruppe, denn diese existiert vor allem als ein sicherer Ort für Frauen. Hier teilen Frauen die guten, schlechten und hässlichen Erlebnisse die es mit sich bringt, eine ausländische Frau in Istanbul zu sein.

Die Gruppe hat 5748 Mitglieder, in der jeden Tag ein Dutzend an Nachrichten von Frauen aus aller Welt kursieren. Um beitreten zu können, muss man die Administratorin kontaktieren und angeben, woher man ursprünglich kommt und in welchem Stadtteil Istanbuls man zur Zeit lebt. Trotz dieser hohen Mitgliederanzahl folgt jede den Regeln. Keine Werbung, keine persönliche Angriffe. Mitglieder, die aus Istanbul weggezogen sind, sind aufgefordert die Gruppe wieder zu verlassen und — Girls Only. Es ist eine Ecke des Internets, die so funktioniert, wie man es sich auch für den Rest des Internets wünschen würde. Nicht weil Männer nicht erlaubt sind, aber… weil Männer nicht erlaubt sind.

Ab und an findet man wilde spirituelle Nachrichten über Hoffnung und Glauben, die mich ein kleines bisschen Schaudern lassen, aber das ist selten und damit kann ich leben.
Die Frauen teilen Informationen über den einen Supermarkt, in dem du das eine Produkt kaufen kannst, das du sonst in der Türkei vermisst. Sie empfehlen Zahnärzte und posten Jobangebote. Sie helfen sich durch den chaotischen und oft frustrierenden Prozess, eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen und lästern über ihre türkischen Schwiegereltern. Aber manchmal dient die Gruppe auch als Erste Hilfe und plötzlich fungieren tausende Frauen als erste Kontaktperson.

Nach einiger Zeit wirkte die Facebook-Gruppe auf mich dadurch wie eine Karte, die aufzeigte, welchen Problemen Frauen zur Zeit gegenüberstehen. Die deutlichsten davon: sexuelle Nötigung, street harassment und der Zugang zu medizinischer Versorgung.

Eine der Frauen wurde bedrängt von einem Mann, der bei einer Firma arbeitete, die Ausländer*innen mit der Aufenthaltsgenehmigung hilft. Er schob seine Hand in ihre Jeans. Sie wusste nicht, ob sie ihn anzeigen sollte, und wenn ja – wie. Wir haben ihr Hilfe angeboten und sie zeigte ihn in den Wochen darauf an. Eine Frau brauchte eine Abtreibung, konnte den Eingriff aber finanziell nicht stemmen. Wir baten ihr Geld und Unterstützung an. Eine weitere wurde fast vergewaltigt und aus ihrer Wohnung geworfen und brauchte eine Unterkunft. Wir boten unsere Wohnungen an. Doch eine Geschichte blieb mir besonders in Erinnerung, weil mir bei ihr bewusst wurde, wieso die Verbindung dieser Frauen so stark ist.

In einem Post schrieb ein Mitglied dass sie gerade in einem Café ist, wo eine Frau am Tisch nebenan weint. Sie war aus Pakistan und weinte, weil sie sich einsam fühlte und niemanden hatte mit dem sie reden konnte, niemanden der ihre Sprache verstand. Innerhalb von Minuten meldeten sich Frauen die Urdu sprechen und baten an, sie im Café zu treffen und mit ihr zu reden.

Die Verbindung dieser Frauen ist so durchdringend, weil wir alle ähnliche Erfahrungen teilen. Wir alle wissen, wie es sich anfühlt neu zu sein, weit weg von den eigenen Leuten. Was es heißt, in einem Land mit fremder Sprache zu leben. In einer nicht vertrauten Kultur. Wir wissen, dass ausländische Frauen schutzloser sind. Und dass es sehr unbequem sein kann diese Person zu sein. Wir wissen was es bedeutet, Ausländerin zu sein. Aber daher wissen wir auch, wie sich Sisterhood anfühlt.