Von Lea Hampel, Rivka Jubitz und Lucie Friedrichs

„Wir schlafen weder nachts noch tagsüber. Das ist unser Schicksal. […] Wir wollen nicht in die Türkei. Was sollen wir dort? Wir haben alles ausgegeben, um hierher zu kommen.“
Yazemin, junge Frau aus Afghanistan

Seit dem Inkrafttreten des Abkommens der EU mit der Türkei am 20. März 2016 hat sich die Situation auf der Insel Chios in Griechenland innerhalb kürzester Zeit drastisch verändert. Während vor jenem Sonntag die Versorgung und Unterbringung von ankommenden Menschen auf der Flucht, mithilfe der Zivilbevölkerung und NGOs, in den Camps halbwegs zu gelingen schien, wenn auch unter miserablen Bedingungen, herrschen nun Chaos, Ungewissheit und Gefangenschaft.

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Ein Lager wie ein Gefängnis. ©privat

Die Insel wurde in einer Hauruck Aktion am vergangenen Wochenende geräumt. Alle Flüchtenden, die noch nicht selbstständig weitergereist waren, was bis dato noch möglich war, und die vor dem Eintreten der neuen Regelungen angekommen waren, wurden mit Fähren aufs Festland gebracht. Die Menschen, die seither durchnässt und verausgabt von einem der billig fabrizierten Schlauchboote auf Chios an Land stiegen, haben schlicht den falschen Zeitpunkt für ihre Ankunft erwischt.

Direkt am Hafen werden sie in Reisebusse gesteckt, für die sie, laut Aussage eines Geflüchteten, drei Euro zahlen müssen. Wie wir am Hafen sahen, sind die Sitze der Busse mit Mülltüten abgeklebt. Die Menschen werden zum sogenannten Hotspot „Vial“ gebracht, welcher vor dem Abkommen als zentrale Registrierungsstelle diente und nun ein Abschiebegefängnis für circa 1000-1300 Menschen geworden ist. Laut Aussage eines Polizisten sind darunter schätzungsweise 30-40 Prozent Minderjährige.

Zuvor wurde das von der belebten Ostküste fernab in den Bergen gelegene Lager vom Militär betrieben, erzählt uns eine Mitarbeiterin, die wir am Montag, einen Tag nach dem Inkrafttreten des Pakts, vor „Vial“ treffen. Nun haben Polizei und Behörden übernommen und jeglicher Zutritt für externe Personen ist verboten. Des Weiteren sagt die Regierungsmitarbeiterin, als wir sie auf die Möglichkeit der Gefangenen, Asyl zu beantragen, fragen: „Das war ein schlechter Tag. Wir haben keine Informationen.“

Fakt ist, dass niemand der Flüchtenden bis jetzt Asyl beantragen konnte. Die griechischen Behörden und die Mitarbeiter*innen in „Vial“ haben weder einen Plan zum weiteren Vorgehen, noch Informationen, die sie an die Gefangenen weitergeben könnten. Völlige Überforderung und Warten auf die angekündigten EU-Hilfen in Form von 2000 zusätzlichen Mitarbeiter*innen und Asylexpert*innen scheint derzeit das Motto der Staatsgewalt in Griechenland zu sein.

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Essenschlange im Lager „Vial“. ©privat

Für die Flüchtenden ist dieser Stillstand folgenschwer. Hinter hohem Zaun, bekrönt von Stacheldraht, müssen sie ausharren. Durch diesen Zaun kamen uns in den letzten Tagen pure Verzweiflung, Wut, Angst und Fragen über Fragen entgegen. „Was passiert hier? Was wird mit uns passieren? Warum sind wir hier?“

Ein Dutzend Aktivist*innen versucht seit dem neuen EU-Beschluss, die Flüchtenden in die Türkei abzuschieben, sich der Sache anzunehmen. Wir werden zu Augenzeug*innen massiver Menschenrechtsverletzungen. Der Zaun am Lager wird zum Ort von Interviews, Trostzuspruch und Informationsaustausch. Susan, eine junge Gefangene, zeigt uns ein Bild von Schlafplätzen auf Paletten und Karton, das wir vom Smartphone durch den Zaun abfotografieren.

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Das Wort „Schlafplätze“ hierfür ist eine Übertreibung. ©privat

Schnell ist klar, dass die Bedingungen der Gefangenen im schon jetzt überfüllten „Vial“ katastrophal sind. Susan erzählt: „Die Situation ist furchtbar. Keine Decken, kein Ort zum Schlafen. Sie sprechen nicht mit uns. Sie geben uns nicht genug Milch für die Kinder. Das Essen reicht nicht. Es gibt keine medizinische Hilfe. Wir sind an einem Ort, der wie ein Gefängnis ist – obwohl wir nichts verbrochen haben.“

Laut UNHCR ist die Anlage für maximal 800 Menschen ausgelegt. Die Sanitäranlagen sind nicht ausreichend und verdreckt, warme Duschen funktionieren nicht. Es gibt immer noch keine medizinische Versorgung und ärztliche Hilfe für chronisch kranke Menschen, Schwangere oder akute Notfälle. Es fehlt an Kleidung. Die Versorgung mit Lebensmitteln ist nicht ausreichend. Es fehlt an Nahrung für die Kleinsten und beim gestrigen Frühstück konnten gerade einmal die Hälfte der Menschen verpflegt werden.

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Zur Koordination der Geflüchteten bekommen sie ein Nummernband. ©privat

Fragwürdige Methoden werden angewandt, um die Menschenmenge zu koordinieren. Da gibt es für jede*n ein Nummernarmband und nach jeder Essensausgabe einen Strich auf die Hand gemalt, das WiFi wird laut Aussagen von Geflüchteten eingeschränkt, sodass Seiten wie Wikipedia oder Google nicht geöffnet werden können.

In besonders schwierigen Verhältnissen leben derzeit die vielen Frauen und Kinder in „Vial“. Weder wird auf die besonderen Bedürfnisse von Kindern eingegangen, noch gibt es safe spaces für schutzbedürftige Mädchen und Frauen.

Sahrah, 6 Jahre alt, will mit uns reden, Anas übersetzt simultan: „Ich möchte nach Europa, nach Deutschland. Mein Vater ist krank, das Baby muss trinken, aber es gibt nicht genug. […] Ich will nicht in die Türkei zurück. Zwischen uns gesagt: Das hier ist ein Gefängnis. Ich bin über das Meer gekommen, die Türkei möchte uns nicht. Alle Menschen in diesem Gefängnis brauchen Hilfe. Wir werden krank. Wir sind Kinder! Was stimmt mit uns nicht? Warum haltet ihr uns in einem Gefängnis fest?“

Vor allem auch allein reisende Frauen fühlen sich nicht sicher, wie uns von einer Gefangenen bestätigt wurde. Aufgrund der Überfüllung des Camps wird bei der Unterbringung nicht auf das Schutzbedürfnis von Mädchen und Frauen geachtet. Dies bedeutet nicht nur ein noch geringerer Schutz vor Übergriffen, sondern auch eine Einschränkung in alltäglichen Belangen, wie zum Beispiel das Abnehmen des Kopftuches. Mütter haben sich aber mittlerweile eine Ecke zum Stillen erkämpfen können.

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Proteste in „Vial“. ©privat

Tagtäglich hören wir von Protesten im Lager. Gefangene schicken uns Videos von drinnen. Die Sprechchöre der Protestierenden haben die eine Message: „Wir wollen gehen!“ Yazemin bittet uns: „Können Sie für uns protestieren, sodass sie uns raus lassen?“

Mittlerweile sind wir von der Polizei nicht mehr geduldet als Zaungäste. Dienstagabend wurden vier Aktivist*innen verhaftet und mehrere Stunden in Gewahrsam genommen und verhört. Gestern bekamen weitere einen Platzverweis ausgesprochen.

Der Pakt zwischen EU und Türkei und seine Umsetzung verstoßen fundamental gegen die Menschenrechte. Kaum jemand sieht dabei zu.