Von Anna Mayrhauser

Ania lebt in Halle als IT-Spezialistin mehr oder weniger entfremdet vor sich hin, bis sie im Gestrüpp neben ihrer Hochhaussiedlung einen Wolf trifft. Es ist Liebe auf den ersten Blick, zumindest von Anias Seite. Sie jagt ihn, fängt ihn, zähmt ihn und führt schließlich mit ihm in ihrer Plattenbauwohnung eine romantische Zweierbeziehung.

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Eine langsame Annäherung. © Heimatfilm

Vor allem die expliziten Sexszenen mit Mensch oder Tier, in denen Ania gleichzeitig dominant und dominiert ist, haben Verstörungspotenzial – wie auch die Tatsache, dass die introvertierte Ania ihr bürgerlich-humanes Leben ohne jedes Bedauern zurücklässt, um sich an ein Tier zu binden.

Kurz vorher kackt sie noch eben ihrem Chef auf den Tisch. Die Schauspielerin und Regisseurin Nicolette Krebitz, die in ihren Filmen schon Helene Hegemann auf Ulrike Meinhof und Susan Sontag treffen hat lassen, zeigt keine Scheu vor Grenzüberschreitungen. Ein Gespräch über Tiere, Märchen und Realismus.

Frau Krebitz, woher kam die Idee zu Ihrer doch recht mythischen Geschichte?
Ich habe geträumt, ich war im Park joggen und habe gespürt, dass etwas hinter mir ist. Ich habe mich umgedreht und da stand ein Wolf. Wir haben uns angeguckt, wie in einem Western, und dann bin ich aufgewacht. Ich wusste, das wird mein nächster Film, und habe angefangen, mich zu fragen warum.

Warum ist es berührend, einem wilden Tier in der Stadt zu begegnen?
Wir glauben, die Städte gehören uns. Wir haben die wilden Tiere entweder gezähmt oder vertrieben. Steht man plötzlich doch einem gegenüber, ist unsere Ordnung irgendwie durcheinander­gebracht. Mit einer Katze zu Hause kann es einem auch schon so gehen, sie guckt einen an und man fühlt sich beobachtet. Es gibt philosophische Texte darüber, dass der direkte Blick eines Tieres verunsichert. Einen an das Tier in einem selbst erinnert. Oder an das Tier, das man nicht mehr ist.

Die verschlossene Ania verändert sich im Blick des Wolfes, sie wird immer selbstbewusster. Ist „Wild“ eine Emanzipationsgeschichte?

Emanzipationsgeschichte klingt immer so, als müsste man sich nur von einem Mann emanzipieren. Der Film ist eine Unabhängigkeitserklärung. Es bleibt offen, ob Ania den Wolf zähmt oder der Wolf Ania. Zu einer wirklichen Unabhängigkeitsgeschichte gehört das Spiel zwischen den Gewalten. Aber ich würde eher sagen, nach einigem Kampf gewöhnen sie sich aneinander.

Warum haben Sie sich dafür entschieden, diese Geschichte sozialrealistisch zu fotografieren?
Sozialrealistisch ist ein tolles Wort! Reinhold Vorschneider, der Kameramann, und ich fanden vor allem wichtig, dass die Begegnung zwischen der jungen Frau und dem Wolf so gezeigt wird, wie sie ist. Nicht irgendwie märchenhaft aufgebauscht und mit Effekten bestückt. Ich wollte, dass man den Film auf gar keinen Fall falsch versteht. Diese Begegnung ist kein Traum oder eine Fabel, sie ist ganz konkret. Eine Frau trifft einen Wolf und das erinnert sie daran, dass sie ihre eigene innere Wildheit zurückhaben will. Wenn man etwas erzählt, das von Emo…