Von Emine Aslan

Der dunkelgrüne Einband des kleinen Notizbuches mit den vergilbten Seiten löst sich bereits. Die Seiten liegen schwer in meinen Fingern, während ich versuche zu verstehen, wie meine Großmutter fünf Jahre in Deutschland auf 30 Din-A7-Seiten bekam.

© Tine Fetz
© Tine Fetz

Ayni Kilo – bir kilo demek.

Ocak – Januar.

Şubat – Februar.

Mayıs – May.

Vorne auf dem Einband steht das Wort „Not“, für Notizen. Etwa 50 Seiten sind unbeschrieben. Leer geblieben. 30 Din-A7-Seiten sprechen für fünf Jahre in Deutschland. Frankfurt am Main. Die Stadt, in die auch ich kürzlich gezogen bin.

Ein paar Adressen in der Türkei finden sich darin wieder. Eine Adresse in Deutschland. Die Adresse des Vaters meines Vaters, der ebenfalls wie der Vater meiner Mutter nach Deutschland gekommen war, um hier zu arbeiten. Die einzige Familie, die ich in Deutschland hatte. Im Gegensatz zu meinem Opa war mein Großvater nämlich irgendwann zurück in die Türkei gegangen. Hatte seine Familie nicht nachgeholt. Nur meine Großmutter in den letzten fünf Jahren seines Aufenthaltes in Frankfurt, um dann letztlich mit ihr gemeinsam zurück zu kehren. In das Zuhause, aus dem wir 2014 erst ihn, und dieses Jahr sie zu unserem Herrn verabschiedeten.

إِنَّا لِلّهِ وَإِنَّـا إِلَيْهِ رَاجِعونَ – „Wahrlich, zu Allah gehören wir und zu ihm kehren wir heim“

Ein paar Bittgebete stehen auf den vergilbten Seiten des Notizbuches mit dem dunkelgrünen Einband, das sich bereits löst. Eins davon soll vor den Qualen des Höllenfeuers schützen.

Niks fişteyn – almanca bilmiyorum.

Fidezeyn – gülegüle.

Gutmorgün – iyi günler demek.

3 – diray.

5 – fünf.

7 – zibin.

8 – aht.

9 – nayn.

10 – seyin.

11 – elf.

12 – züvölf.

Tot – öldü demek.

Foya – Ateş demek.

Mayni libe god – Benim güzel Allahım.

„Mayni libe god“ ist der einzige Satz, den sie auf mehreren Seiten notiert hat. Neben ein paar Vokabeln, die wahrscheinlich beim Einkauf im Supermarkt hilfreich gewesen sind, sticht „Mayni libe god“ hervor.

Was sind die ersten Gedanken, die meine Großmutter in der Fremde mitteilen wollte? Was war so überlebenswichtig, was machte ihre Sprache und ihre Welt aus? Dieser Satz sitzt mir schwer im Herzen. Er verbindet uns auf eine unerklärliche Weise miteinander. Meine Großmutter, meine Mutter, mich.

Heute würde ich sie gerne fragen, ob diese spirituelle Liebe, die sie hegte, in Almanya bereits damals als Gehirnwäsche, als gewalttätiges und unterdrückendes Dogma besprochen wurde. Ob man bereits damals versuchte ihr etwas zu entreißen, von dem sie zwischen Sprachlosigkeit und erniedrigend abwinkenden Händen an der Supermarktkasse so viel Kraft schöpfte.

Not:

Allahu Akbar –

Dschihad –

Hijab –

Scharia –

Was erkläre ich ihnen…?

Grundgesetz –

Menschenrecht –

Islamfeindlichkeit –

Demokratie –

Religionsfreiheit –

Was erklären sie mir…?

Während meine Sprachen miteinander verschmelzen, entsteht ein Wirrwarr von Begrifflichkeiten, die ich immer wieder erklären soll. Von Zeit zu Zeit häufen sich Facebook-Posts von muslimischen Usern, die sich ihr „Allahu Akbar“ wieder aneignen wollen. Elektronische Zeilen der Kränkung, weil Dinge mit den schönsten Bedeutungen ausschließlich in den hässlichsten Kontexten gedacht werden.

Elektronische Zeilen der Kränkung, weil tugendhafte Ideen mit den hässlichsten Absichten gefüllt werden.

Wir übersetzen, um zu verstehen. Wir übersetzen, um verstanden zu werden. Wenn die „Grenzen meiner Sprache die Grenzen meiner Welt“ sind, werde ich aus Überlebensgründen zur Übersetzerin.

Fundamentale Sprachbarrieren damals sind andere als heute. Überlebenskämpfe werden heute anders geführt als damals. Alhamdulillah. Während sich von Generation zu Generation der Einband unserer Notizbücher verändert, wir sie mit anderem Vokabular füllen, schauen wir Übersetzung für Übersetzung den Seiten beim Vergilben zu.

150 Din-A7-Seiten.