Die Massenerschießung in Orlando zeigt, was in unserer Gesellschaft schiefläuft
Von
Von Hengameh Yaghoobifarah
(Content-Note: Gewalt an LGBTQIA+ of Color)
In der langen Geschichte der Gewalt an LGBTQIA+ wurde dieses Wochenende ein weiteres Kapitel geschrieben. In dem besonders von latinx, Schwarzen Queers und Transpersonen besuchten Nachtclub Pulse in Orlando, USA, wurden nach einer Geiselnahme mindestens 50 Menschen ermordet und weitere 53 verletzt. Worte können nicht beschreiben, welche Trauer und welchen Schmerz ich empfinde, während ich diesen Text niedertippe. Meine Gedanken sind bei den Betroffenen und ihren Angehörigen. May they rest in power.
(Bildbeschreibung: Bus mit den Bannern „Some Muslims Are Gay“ und „Queer Muslims Unveiled“, darüber Flaggen der Länder Palästina, Bangladesch und Libanon)
Gewalt an queeren Personen ist so normal, dass erst ein solches Massaker signalisiert, dass Homo- und Transfeindlichkeit töten. Ich frage mich: Wie viele Transfrauen of Color werden täglich ermordet, ohne dass wir jemals ihre Namen und Geschichten kennen? Wie viele Besucher*innen queerer Bars werden eigentlich pro Nacht auf dem Heimweg verprügelt? Wie viele Queers und Transpersonen sterben jährlich unter Polizeigewalt, wie viele von ihnen, weil sie rassifiziert wurden?
Diese Gedanken allein sind schon schwer zu ertragen, doch dabei soll es nicht bleiben. Der Täter, ein 29-jähriger Mann namens Omar Mateen, soll ein islamistisches Motiv und Verbindungen zur Daesh vorgewiesen haben. Wie erwartet sorgt diese Tatsache dafür, dass nicht die hetero- und cissexistischen Gewaltstrukturen in den USA und überall sonst diskutiert werden, sondern alle Muslim*innen pauschal zum Problem gemacht werden.
Gewalt – ob homo-, tranfeindliche oder misogyne – ist jedoch kein muslimisches Phänomen, wie derzeit behauptet wird. Die „Washington Post“ veröffentliche eine sehr eindeutige Statistik: Unter den 2015 in den USA stattgefundenen Massenerschießungen gingen nur drei von Täter*innen mit muslimischem Hintergrund aus – ein Bruchteil also.
Mass shootings that involved Muslim suspects (red) pic.twitter.com/f6g6Yzl9kg
— Adam Khan (@Khanoisseur) December 7, 2015
(Bildbeschreibung: Karte der USA mit Markierung aller Massenerschießungen mit mindestens vier Verletzten oder Ermordeten. Fälle mit muslimischen Täter*innen sind besonders gekennzeichnet, es handelt sich um 3 Fälle.)
Die typischen Gesichter homo- und transfeindlicher Gewalt sind in den USA die von weißen Konservativen. Seien es Donald Trump, die 40-köpfige Hassgruppe Westboro Baptist Church oder die täglich agierenden, anonym bleibenden Täter*innen – die Gewalt ist kein muslimisches Importprodukt, sondern made in USA.
(Bildschreibung: Tweet von @chasestrangio: „Die christliche Rechte hat in den letzten sechs Monaten 200 homo- und transfeindliche Gesetzesentwürfe eingereicht und Leute weisen die Schuld dem Islam zu. Nein. #PulseNightclub“)
Genau so unangebracht wie antimuslimische Hetze sind übrigens auch Debatten in religiösen Gemeinschaften, in denen besprochen wird, ob Homosexualität nicht eigentlich doch bestraft werden sollte. Sorry, aber um diese selbstgerechten Diskussionen hat niemand gebeten. Sie sind, mild ausgedrückt, respektlos allen Betroffenen und ihren Angehörigen gegenüber. Vor allem: Als ob es euch zu besseren Religiösen machen würde! Wer an Gott glaubt, sollte sich auch dessen bewusst sein, dass Gott verdammt noch mal Gott ist und eure unqualifizierten Meinungen und Einmischungen in die Leben anderer nicht braucht. Nur als kleine Erinnerung.
Aufspaltungen in „wir“ und „die Anderen“, Queers vs. Muslim*innen und andersherum, bringen uns nicht weiter. Die Realität ist komplexer als entweder/oder. In diesem Moment finden zwei sehr wichtige Monate statt. Es ist der gesegnete Monat des Ramadan und es ist auch Pride Month. Gleich zwei Anlässe also, sich mit giftigen Dynamiken, Machtstrukturen und gescheiterten Strategien selbstkritisch innerhalb von Communitys auseinanderzusetzen. Antimuslimischer Rassismus in queeren und Hetero- sowie Cissexismus in muslimischen Gemeinschaften sollten besonders jetzt hinterfragt werden. Die Gleichzeitigkeit dieser symbolischen Wochen zeigt auch, dass Muslimischsein und Queersein keine Widersprüche zueinander sind, sondern auch miteinander funktionieren. Ein homo- und transfeindlicher Islam ist ein kolonialistischer Islam. Denn Homo- und Transfeindlichkeit sind Gewaltstrukturen, die von Kolonialisierenden in die restliche Welt getragen und manifestiert wurden. Wer also antirassistisch und antikolonialistisch handeln will, muss unbedingt die eigene Queerfeindlichkeit dekonstruieren. Und selbstredend trauern nicht nur queere Muslim*innen über die jüngsten Vorfälle.
Es gibt genügend andere Aspekte, auf die wir uns gemeinsam fokussieren können: zum Beispiel das Cis- und Whitewashing dieser Gewalt. Es blieb zunächst unsichtbar, dass es sich bei den Betroffenen nicht etwa um schwule, weiße Cismänner, sondern fast ausschließlich um Schwarze und latinx Queers und Transpersonen handelt.
Oder die Tatsache, dass der tief verankerten homofeindlichen Gesetze der USA sei Dank schwule und bisexuelle Männer derzeit nicht in der Lage sind, ihrer verletzten Community mit Blutspenden zu helfen, sondern, dass sie von einer heterosexuellen Mehrheit abhängig sind. Diese solidarisiert sich zum Glück, doch je nach Demografie des Tatortes hätte es auch ganz anders aussehen können.
Ich frage mich auch, was nach dem Schock, der Wut und der Trauer bleibt. Ist es vielleicht Angst? Das Pulse war nicht nur ein Nachtclub, sondern ein Community-Treffpunkt, für viele seiner Besucher*innen ein sicherer Fluchtort, wenn es außerhalb des Gebäudes nicht genügend Raum für sie gab. Vermeintliche Safer Spaces von Queers und Transpersonen, ob für weiße, muslimische, of Color oder Schwarze – von ihnen gibt es auch in meiner Nähe einige. Auch meine Freund*innen und ich bewegen uns in ihnen. Unter uns sind auch latinx und Schwarze Queers und Transpersonen, aber auch muslimische, kurdische, jüdische, nur um einige Positionen hervorzuheben. Auch unsere Räume sind von rassistischer, homo- und transfeindlicher Gewalt betroffen, potenziell auch in solcher Dimension. Die steigende rechte Gesinnung in Deutschland und die Wahlerfolge der rassistischen, antisemitischen, misogynen, homo- und transfeindlichen AfD lösen in mir Panik aus.
Deshalb bleibt es wichtig, aufeinander aufzupassen. Angst sollte nicht stärkere Polizeikontrollen, Überwachung oder diskriminierende Ausschlüsse in Kraft setzen, sondern Strategien des Zusammenhalts ermöglichen. Der private Gebrauch von Waffen ist in den USA schon längst außer Kontrolle geraten und eine Gesetzesverschärfung ist unumgänglich. Doch auch strukturell muss viel getan werden. Rassistisches, antimuslimisches, homo- und transfeindliches Denken tötet. Körperliche Gewalt an LGBTQIA+ of Color und Muslim*innen ist ein Symptom der perfiden Strukturen. Die Gesetze, die Art, wie wir Mediendebatten führen, die Denkmuster, die Räume, die wir haben oder nicht haben, all diese Dinge sind die Basis, die diese Gewalt erst ermöglichen.