Von Dominique Haensell

Das Erste, was allen auffällt, ist der Ort. Mitten in Berlin Wedding, unweit der hektischen Müllerstraße, liegt der monumentale Gebäudekomplex eines ehemaligen Krematoriums. Dort, Tür an Tür mit Musiklabels und Filmarchiven, aber eben auch mit den Gräbern des angrenzenden Urnenfriedhofs, lädt das SAVVY Contemporary zu einer Beschwörung der besonderen Art. „The Incantation of the Disquieting Muse: Von Göttlichem, Supra-Realitäten oder der Austreibung von Hexerei“ nennt sich die aktuelle Ausstellung der Kunstinitiative, deren Auftakt im Juni mit einer spektakulären Eröffnungsparty begann und in der Woche darauf mit einem Performance- und Vortragsprogramm fortgesetzt wurde.

© Hannes Wiedemann
© Hannes Wiedemann

(Bildbeschreibung: An einem Metalltor hängt ein blaues Poster mit weißer Schrift. Lesbar ist: Witchery as a rebellion, a refute, a queering against a religious and power adjudication, and on the other hand – witchery as …)

Ich bin hier, um ein paar Stimmen aus dem Programm aufzufangen. Nun sitze ich in der steinernen Kühle der achteckigen Trauerhalle, lausche einem Vortrag und ertappe mich dabei, wie mir noch immer gelegentlich ein Schauer über den Rücken läuft. So richtig vergessen lässt sich die ursprüngliche Verwendung des Gebäudes nicht. Aber genau diese unheimliche Gleichzeitigkeit von jetzt und damals macht den Ort so besonders – und so perfekt für SAVVY Contemporary. „Wir verstehen SAVVY nicht als eine Galerie, sondern als eine Art Labor“, erklärt mir Nathalie Mba Bikoro, Künstlerin und Kokuratorin des Performanceprogramms. „Da wir eng mit Leuten an verschiedenen Orten in Afrika, Asien oder Amerika zusammenarbeiten, ist SAVVY sehr international und lässt sich nicht auf eine Geografie reduzieren. Dennoch gibt es gerade hier in Berlin einen faszinierenden Reichtum an unerzählten Geschichten, an vermeintlich verschütteter Vergangenheit. Wir wollen diese Erinnerungen sichtbar machen.“ Seit seiner Gründung 2009 fungiert SAVVY selbstbewusst als Kunstraum für andere Wissenssysteme und Diskurse, vornehmlich aus der Perspektive des „globalen Südens“.

„Wir fragen niemanden um Erlaubnis, wir wollen niemanden überzeugen. Wir machen es einfach“, meint Kurator Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, promovierter Biotechnologe, SAVVY-Gründer und seit letztem Jahr auch Kokurator der documenta 14. So widmete sich SAVVY jüngst dem Aufbrechen „westlicher“ Zeit- und Produktivitätsvorstellungen oder erinnerte 2015 an die Berliner Konferenz von 1884/85 – und an die äußerst gegenwärtigen Folgen der kolonialen Aufteilung Afrikas. Damals noch in Neukölln bezog SAVVY Anfang des Jahres auf Einladung des Silent Green Kulturquartiers einen Teil des Krematoriums in Wedding. Gerade die Spuren der deutschen Kolonialgeschichte durchziehen diesen Berliner Bezirk. Nun lautet SAVVYs offizielle Adresse Plantagenstraße 31. Plantagenstraße, Ecke Adolfstraße, um genau zu sein. You couldn’t make this shit up.

„Es geht hier nicht nur um die Beziehung zwischen Europa und Afrika. Kolonialität ist ein globales, repressives System“, meint Bikoro. Ein Effekt dieses Systems sei das Ausblenden und Abwerten alternativer Wissenssysteme und an diesem Punkt setzt das aktuelle Ausstellungsprojekt ein. Jenseits von Dämonisierung oder romantischer Verklärung wird Hexerei hier als ein Medium verstanden, das kulturelles, historisches, religiöses oder spirituelles Wissen zwischen Afrika und der afrikanischen Diaspora tradiert. Um die fünfzig Kunstschaffende, Performer*innen und Wissenschaftler*innen hatte SAVVY anlässlich der Ausstellung darum gebeten, Hexerei „von seiner Verortung im ‚Savage Slot‘ zu befreien“. Das Ergebnis reichte von Vorträgen und Panel-Diskussionen über Videoinstallationen und Lyriklesungen bis zu Live-Seancen und Tanzperformances. Knapp zwanzig Projekte sind in der bis zum 07. August laufenden Ausstellung zu sehen, Vorträge und Performances waren Teil der „Invocations“ im Juni. Bei diesem prall gefüllten Programm fühlte ich mich zwar leicht überwältigt, aber, so erklärt mir das Programmheft, gerade dieser multidisziplinäre Ansatz soll das Thema Hexerei aus starren Denkstrukturen lösen, komplexer machen.

Ich erwische an diesem Tag einen Vortrag von Erna Brodber, eine der prominentesten karibischen Intellektuellen. Jeglichem Jetlag zum Trotz referiert die 76-Jährige fesselnd über Black Consciousness und Spiritualität als Wissenssystem. Später treffe ich sie zu einem kurzen Interview und bin ziemlich beeindruckt von dieser alten Dame: nicht nur von ihrem Lebenswerk, sondern von ihrer, nun ja, irgendwie weisen Ausstrahlung. Vor etwa zehn Jahren gründete Brodber in ihrem jamaikanischen Heimatort den Diskursraum Blackspace, zu dem regelmäßig diasporische Kulturschaffende geladen werden, um über emanzipatorische Themen zu sprechen. In ihrer eigenen Arbeit beschäftigt sie sich mit der Bewahrung und Aufwertung diasporischen Wissens als fundamental eigene Wahrnehmung der Welt. Dabei geht es vor allem um den Austausch innerhalb einer Community und nicht um einen Gegendiskurs zur vorherrschenden Phänomenologie des „Westens“. Der scheint Erna Brodber, die viele Jahre als Soziologin in den USA gelehrt hat, nämlich ziemlich egal zu sein. Trotz ihres panafrikanischen Anspruchs konzentriert sich Brodber vor allem auf ihr direktes Umfeld, also auf Jamaika: „Ich spreche noch nicht einmal für die Karibik, denn ich habe einen sehr eng gesteckten Rahmen für das, was ich tun kann. Meine jetzige Aufgabe ist es, vergessenes Wissen freizulegen und die Bedingungen zu schaffen, auf deren Grundlage eines Tages ein größerer, ebenbürtiger Dialog stattfinden kann.“

Erna Brodber bei ihrer Lecture "Blackspace and Knowledge Production" © Hannes Wiedemann
Erna Brodber bei ihrer Lecture „Blackspace and Knowledge Production“
© Hannes Wiedemann

(Bildbeschreibung: Zwischen Köpfen des Publikums gelingt ein Blick auf Erna Brodber bei ihrem Vortrag „Blackspace and Knowledge Production“.)

Diese Haltung könnte man als eine gewisse Alterspragmatik interpretieren, aber mich bringt Brodbers bewusste Limitierung noch lange später zum Nachdenken. Was bedeutet es, ausdrücklich nur für die eigene Erfahrung sprechen wollen? Gerade in Zeiten, in denen paradoxerweise parallel zu einem immer differenzierteren Verständnis von Identität auch immer stärkere Gruppenidentifikationen stattfinden. Wo komplexe Identitäten, trotz oder gerade wegen ihrer Komplexität zu übergeordneten Gruppen gebündelt werden, sei es der Übersichtlichkeit halber, sei es im Namen von politischer Mobilisierung oder kultureller Zugehörigkeit oder schlichtweg als ohnmächtige Reaktion auf die Unübersichtlichkeit moderner Gesellschaften. Dieser Widerspruch, also komplexe Identitäten und deren unweigerliche Fehlkommunikationen und Missverständnisse innerhalb einer Gruppenidentität auszuhalten, ist vielleicht eine der potenziell produktivsten, aber auch schwierigsten Aufgaben der Gegenwart. Die Gruppenidentität der Schwarzen Diaspora, allen voran die der synkretistischen Gesellschaften der Karibik, existiert von jeher in und durch diesen Widerspruch, der, so begreife ich im Gespräch mit Erna Brodber, in der Praxis auch vor allem darin besteht, so nah wie möglich bei sich selbst zu bleiben. Also die Gruppenidentität als flexibles, weniger als über- denn als nebengeordnetes Feld der eigenen Identität zu verstehen. Vielleicht ist es also auch kein Zufall, das SAVVY-Kurator Bonaventure Ndikung in seiner Ankündigung einen Artikel zitiert, der Brodber als „kulturelle Historikerin, Soziologin, Autorin, Lehrerin, Community Organisatorin, Aktivistin, Pflegerin, Mutter, Unternehmerin, Heilerin und Chronistin“ bezeichnet. Denn unweigerlich muss ich an eine andere in der Karibik geborene Intellektuelle denken. Auch Audre Lorde bezeichnete sich stets als „Schwarze Lesbe Feministin Mutter Poetin Kriegerin“.

Hexerei von einer ganz anderen Perspektive beleuchtet die Historikerin Wanda Wyporska, die sich in ihrer Arbeit mit Hexenprozessen im Polen der frühen Neuzeit befasst. „Oft sprechen mich Leute an: Oh, meine Freundin ist eine Hexe“, erzählt sie mir im Anschluss an ihren Vortrag. „Aber da bin ich sehr skeptisch. Wir schulden es diesen grausam gefolterten und ermordeten Menschen, die wahren Gründe hinter diesen Prozessen zu benennen: Da ging es um Machtstrukturen, nicht um Übersinnliches.“ Als Historikerin macht sie sich aber auch Gedanken über die institutionelle Marginalisierung bestimmter Wissenssysteme: „Das historische Studium der Hexerei war auch ein strategischer Zug. Anstelle von Königen und Mächtigen ging es hier vor allem um die Geschichten von Frauen, von Kindern, von Schwulen und Lesben. Gerade in Hinblick auf Frauengeschichte hat sich da viel getan. Langsam widmen sich mehr Wissenschaftler*innen auch der Schwarzen Geschichte, das finde ich fantastisch.“

THE INCANTATION OF THE DISQUIETING MUSENyongo. On Divinity, Supra-Realities or the Exorcisement of Witchery
Ausstellung bis zum 07. August 2016
SAVVY Contemporary Berlin

Überrascht hätten sie heute vor allem die Parallelen zwischen den historisch überlieferten Hexenpraktiken in Europa und den noch immer praktizierten Techniken der afrikanischen Diaspora. Ein Argument für die Rückschrittlichkeit von Praktiken wie Obeah, Voodoo oder Candomblé? Nein, meint Nathalie Bikoro. Denn diese Art zu denken entstehe nur durch ein lineares Geschichtsmodell, das einen Großteil der Welt als ahistorisch und primitiv abstempelt, um selbst als modern und fortschrittlich zu gelten. „Hexerei ist eine zwar eine Art Tradition, aber Traditionen können genauso gut moderne Konstruktionen sein. Tradition ist immer eine Form von Narration, eine Methodologie, die zu jeder Zeit neu erfunden wird. Dadurch ist Zeit nicht linear, sondern zirkulär, die Vergangenheit auch immer Teil der Gegenwart.“ Von einer dekolonialen Perspektive symbolisiert das Verständnis von Hexerei als tradiertes Wissen also nicht ein romantisches, wenn nicht gar reaktionäres Sehnen nach einer vormodernen Idylle. Dafür sind die Begriffe des vermeintlich Modernen oder Primitiven zu komplementär aneinandergekoppelt. Außereuropäische Hexerei lässt sich natürlich nur als Technologie der Moderne verstehen. So Bikoro: „Auch hier wirken Strukturen der Kolonialität, mindestens 500 Jahre des kulturellen Austauschs und natürlich die Aneignung einer kapitalistischen Logik. Was vielleicht einst eine Form medizinischen Wissens war, ändert mit diesem Systemwechsel auch seine Bedeutung. Dieses Spannungsfeld navigieren und kritisieren wir in unserer Ausstellung. Wie lassen sich beispielsweise ökonomische Ausbeutung und ‚Zombification‘ zusammendenken?“

Die Ausstellung ist auch Teil von African Futures, einem interdisziplinären Festival in Johannesburg, Lagos und Nairobi, das hiermit in Berlin seinen Abschluss findet. Aber anstatt sich mit der momentan viel beschworenen Futurität Afrikas zu beschäftigen, hat sich das Kurator*innenteam von SAVVY bewusst dem Ausloten von Vergangenheit und Gegenwart verschrieben. Die allzu starke Betonung der Zukunft verorte Afrika nämlich erneut in einem geschichtslosen Raum, wenn auch unter positiven Vorzeichen. Aber gerade diese Vergangenheit dürfe nicht ausgeblendet werden, im Gegenteil. „Gerade hier in Berlin sind so viele Dinge passiert, die Leute für unwichtig erachten und gerne bewusst vergessen möchten. Aber genau diese Erinnerung ist wichtig, um zu verstehen, was aktuell passiert.“ Und wo ließen sich die Geister der Vergangenheit schon besser beschwören als hier, in einem alten Krematorium in Berlin Wedding.