Von Mithu Sanyal

Immer wieder werden die Haare der Opfer beschworen, die blond und lang sind – lang und blond – im Gegensatz zu den knapp 150 Seiten des Buches, das hauptsächlich aus recycelten Artikeln aus der „EMMA“ besteht – und zwar aus den letzten 14 Jahren. Anscheinend hat Alice Schwarzer nicht genug zu sagen zu der Silvesternacht 2015/16.

© Bettina Flitner
© Bettina Flitner

Doch dafür sagt sie es umso lauter: „Zehn Stunden lang ein rechtsfreier Raum auf dem zentralsten Platz einer deutschen Millionenstadt. So etwas hat es zu meinen Lebzeiten noch nie gegeben.“ Ein Blick auf ihre Kurzbiografie am Anfang des Buches verrät, dass sie 1942 geboren wurde. War die Silvesternacht wirklich so viel schlimmer als der Faschismus?
Natürlich meint sie das nicht so. Aber auch nicht absolut nicht so. Denn Alice Schwarzer kalkuliert scharf. „Der Schock“ ist so ein schockierendes Buch, weil es wichtige Argumente nimmt und diese umdreht. So ist es laut A.S. rassistisch, den Menschen (die auf der Domplatte Handys geklaut und Frauen belästigt haben) nicht zu unterstellen, dass sie dies gezielt und verabredet gemacht hätten, um Frauen zu zeigen, dass sie „unrein sind und am Abend nichts auf der Straße zu suchen haben“. Nicht nur weiß Schwarzer, was sie getan, sondern sogar, wie sie sich dabei gefühlt haben. Nämlich: „als Helden in ihrem ,Krieg gegen den Westen‘.“

Bloß entsprachen die ersten beiden jungen Männer, die am 07.07.2016 für sexuelle Belästigung in der Silvesternacht Köln verurteilt wurden, diesem Bild nicht unbedingt, hatten sie sich nach einem Aufruf doch selbst bei der Polizei gemeldet, und im Verhandlungssaal bei den Klägerinnen entschuldigt. Das macht aber gar nichts, weil Schwarzer die Deutungshoheit über die Realität hat. So ist ihre Beschreibung der Geflüchteten aus Kriegsgebieten atemberaubend: „Sie haben Schreckliches erlebt oder getan, oft beides.“ Wow, wenn dein Haus bombardiert wird, bist du wahrscheinlich ein Bombenleger? Das würde sie zwar nicht so sagen, aber doch, dass wir ja alle wissen, was Brutalisierung durch Kriege anrichtet: Es macht Menschen brutal. Deshalb hat auch ihre Forderung nach Therapien für „diese Männer“ nicht zum Ziel, dass sie Hilfe zur Aufarbeitung ihrer Erlebnisse bekommen, sondern „um von der Gewalt wieder runterzukommen“.

Noch verblüffender ist Schwarzers Erklärung für den ansteigenden Rassismus gegen Geflüchtete: Schuld ist die Toleranz. Wörtlich: „Vor allem Linke und Liberale müssen sich fragen lassen, welche Verantwortung sie mit ihrer falschen Toleranz dafür tragen.“
Nun mag es falsche Toleranz geben und es mag sein, dass die deutsche Linke nicht durch die Reihe Expert*innen für beispielsweise die rechte Bewegung Milli-Görüs sind (wobei zumindest in den linken Kreisen, in denen ich mich bewege, genügend Kurd*innen herumlaufen, die eine Menge zu Milli-Görüs zu sagen haben), was aber nicht nur nicht stimmt, sondern schlicht eine Lüge ist, ist, dass die deutsche Presse es aus Political Correctness nicht wagen würde, Kritik an Islamisten zu üben. „Schwer erträglich, diese Denkverbote. Und so deutsch.“ Hallo? Hat Alice Schwarzer noch nie eine Zeitung gelesen außer ihrer eigenen?

Kernpunkt ihrer Argumentation ist, dass „die“ ihren Frauenhass „zu uns“ importieren; „Sie kämpfen für eine Geschlechter-Apartheid“. Doch lag sie damit ja im Mainstream der Medien im Januar 2016, die sich zum Glück rasch diversifizierten. Auch Alice Schwarzers Vergleich der Ereignisse in Köln mit den massiven sexuellen Einschüchterungen 2011 in Kairo auf dem Tahrir-Platz bei den Demonstrationen gegen Mubarak, wurde wieder und wieder wiederholt.

So zum Beispiel von der algerischen Soziologin Marieme Hélie-Lucas, die deshalb auch einen Text zu „Der Schock“ beisteuern darf, in dem Hélie-Lucas anklagt: „Will Europa von uns nichts lernen? Darf es zwischen dem, was bei uns in Nordafrika passiert ist, und dem, was jetzt auch in Europa passiert, nicht die geringste Ähnlichkeit geben? Will man ‚Putzlappen und Handtücher‘ nicht vergleichen?“

Der Haken war nur, dass gerade die Aktivistinnen, die auf dem Tahrir-Platz dabei waren und selbst sexuelle Gewalt erlebt hatten, dem vehement widersprachen. Mehr noch wiesen ägyptische Frauenrechtsaktivist*innen wie Mariam Kirollos und Noora Flinkman darauf hin, dass die sexualisierte Gewalt auf dem Tahrir-Platz ein gezieltes politisches Instrument zur Einschüchterung und Machtdemonstration war: Und diese nicht mit den betrunkenen Übergriffen in Köln zu vergleichen, ist dasselbe wie Äpfel und Autos nicht zu vergleichen.

© Verlag Kiepenheuer & WitschAlice Schwarzer: Der Schock. Die Silvesternacht von Köln
KiWi
8 Euro

Doch hat diese Rhetorik bereits Wirkung, wie die Änderung des Sexualstrafrechts zeigt, in der nicht nur endlich eine „Nein heißt Nein“-Regelung integriert, sondern auch ein Passus eingeschoben wurde, nach dem „nun ein aufgedrängter Zungenkuss schon zu einer Abschiebung in Kriegsgebiete führen kann“, wie die Abgeordnete der Linken, Halina Wawzyniak, bei der Debatte im Bundestag warnte.

Das Perfide an dem Buch ist, dass es so viele Behauptungen aufstellt zu so vielen Themen, von denen so viele Menschen so wenig Ahnung haben, und deswegen so verunsichernd ist. Angefangen bei den Fantasien zu der Sexualität der „islamischen Männer“, über die politische Analyse der „muslimischen Situation“, bis hin zu der Behauptung, dass 70 bis 80 Prozent aller Vergewaltigungen von Türken begangen würden – die Schwarzer nicht nur nicht weiter recherchiert, sondern einem nicht namentlich genannten „leitenden Kölner Polizeibeamten“ in den Mund legt, der das aber niemals der Presse sagen würde – außer natürlich der stadtbekannten Journalistin Schwarzer –, weil ihm das die antirassistische Gedankenpolizei verbiete. Wenn man die Kalorien der Lügen zählen würde, wäre „Der Schock“ ein Eimer Bratfett und liegt ungefähr so schwer im Magen.