Von Carolin Haentjes

Es waren einmal: Aschenputtel, Rapunzel, das tapfere Schneiderlein und der eiserne Heinrich. Die Mädchen waren brav und schön, die Jungs klug und tapfer, und sie alle waren weiß und hetero. Und weil diese Stereotype nie gestorben sind, leben sie noch heute: in Film, Fernsehen, Werbung und vor allem in der Kinder- und Jugendliteratur. Gerade wegen ihres „pädagogischen Werts“ wird in Büchern für Kinder und Jugendliche in aller Regel eine normierte „Idealwelt“ dargestellt: Da bestehen Familien nur aus heterosexuellen Eltern-(Ehe-)Paaren mit ein oder zwei Kindern. Fast immer entsprechen die auftretenden Charaktere körperlichen Normen und haben keinen Migrations-, stattdessen einen Mittelschichtshintergrund. Für die Lebenswelten von People of Color, Menschen mit Behinderungen, mit Krankheiten oder mit Abhängigkeiten oder auch Identitäten jenseits der zweigeschlechtlichen Norm gibt es da wenig Raum – von schuldbewusst eingefügten Quotenauftritten einmal abgesehen.

Autor*in Alex Gino © Blake C. Aarens
Autor*in Alex Gino © Blake C. Aarens

Aber seit Kurzem erobern vor allem Geschichten mit genderqueeren Charakteren und Themen einen Platz in der Kinder- und Jugendliteratur. Alex Ginos Buch „George“ ist so ein Beispiel. „George“, das ist, wie alle die neunjährige Melissa nennen. Bei der Theateraufführung am Ende des Schuljahrs will sie unbedingt die weibliche Hauptrolle spielen, damit die Welt, allen voran ihre Mutter, endlich sieht, dass sie kein Junge ist. Sondern ein Mädchen.

Die englischsprachige Presse feierte „George“ wie kaum ein anderes Kinderbuch mit Transgenderthemen zuvor. Tim Federle beispielsweise bezeichnete das Buch in der „New York Times“ als „maybe the most right-now book imaginable“. Dank Alex Gino können wir einer Neunjährigen begegnen, die von der Welt isoliert ist, weil sie nicht sein darf, wie sie ist. Die aber dafür kämpft, es sein zu können.

Alex, in deinem Buch erzählst du von Melissas Coming-out. Warum heißt das Buch „George“?
Na ja, ursprünglich lautete der Titel „Girl George“ und war eine Anspielung auf Boy George. Aber das war wohl nur vor dreißig Jahren witzig. Und auch in der Verlagswelt gibt es Vorstellungen und Ideen, die sich mit der Zeit ändern. Ich hätte das Buch lieber nicht „George“ genannt, weil Melissa den Namen nicht mag und nicht benutzt. Trotzdem finde ich, dass sich durch den Titel ein interessanter Twist ergibt. So spiegelt sich nämlich das Unbehagen, das viele Cisgender-Menschen empfinden, wenn sie mit transidenten Menschen umgehen, in der Verwirrung darüber, wie sie jetzt eigentlich über das Buch sprechen sollen. Da werden nämlich scheinbar einfache Fragen wie „Wie heißt du?“ plötzlich kompliziert.

Melissa weiß mit ihren neun Jahren ganz genau, dass sie Mädchen ist – obwohl die ganze Welt sie wie einen Jungen behandelt. Das hat mich – als Cisfrau – überrascht.
Jede Transgeschichte ist anders. Es gibt viele Transmenschen – mich selbst eingeschlossen –, die erst einmal keine Sprache für das haben, was sie empfinden. Melissas Geschichte ist in gewisser Hinsicht eine simple Transstory, weil für sie ganz klar ist, dass sie ein Mädchen ist. Und es gibt auch Kids, die mit zwei schon widersprechen und sagen: „Ich Junge“. 

Melissa ist ja ein sehr mädchenhaftes Mädchen. Sie liebt pink, ist nah am Wasser gebaut und würde sich – wenn sie könnte – den ganzen Tag mit Nagellack und Make-up beschäftigen. Unterstellt das nicht ein sehr enges Verständnis von Genderidentität?
Ja, darüber habe ich auch viel nachgedacht! In gewisser Hinsicht: Na klar. Dass sie so ein „girly girl“ ist, ist vielleicht einer der Gründe, warum sie so früh so genau über sich selbst Bescheid weiß. Trotzdem ist Melissa nicht einfach ein Stereotyp – und ihre beste Freundin Kelly zum Beispiel ist ein eher unmädchenhaftes Mädchen. Aber ich bin auch einfach ein*e Feminist*in, die*r Mädchenhaftigkeit nicht herabwürdigen will. Was ist denn falsch daran, ein „girly girl“ zu sein? Ich finde Glitzer legitim. (Lacht)

Wie viel hast du mit Melissa gemeinsam?
Der autobiografischste Moment in dem Buch ist, wenn sie beim Lesen von „Wilbur und Charlotte“ anfängt zu weinen. Ich habe auch geweint, damals, in der zweiten Klasse – und sonst niemand, zumindest erinnere ich mich so daran. Für mich war das einer der ersten Momente, in denen ich mich sehr anders gefühlt habe. Aber Melissa ist sich viel klarer über ihre Identität, als ich es war. Ich hatte erst mit 19, als ich auf das Wort „genderqueer“ gestoßen war, einen Begriff gefunden, mit dem ich mich identifizieren konnte. Aber Melissa und mich verbindet auf jeden Fall, dass wir beide so gesehen werden wollen, wie wir sind.

Diese Frage, wie viel du mit Melissa gemeinsam hast, wird dir wahrscheinlich ständig gestellt, oder?
Nein! Du hast nämlich richtig gefragt: „Inwiefern ähnelt ihr euch?“ Meistens werde ich so Sachen gefragt wie: „Dein Buch ist also autobiografisch?“ Aber es ist überhaupt nicht autobiografisch! Ich bin in den 80ern aufgewachsen, da gab es keine Fernsehsendungen über Transkinder und auch kein Internet, in dem ich Wörter wie „genderqueer“ hätte googeln können!

Autor*innen, die aus einer marginalen Position schreiben, werden oft darauf reduziert, nur über ihre eigene Erfahrung zu schreiben. Wie denkst du darüber?
Ich befürworte auf jeden Fall, wenn Menschen für sich selbst sprechen: Für mich hat eine Geschichte, die aus der Community kommt, sehr viel mehr Tiefe. Viele Cismenschen, vor allem weiße Frauen, haben Transgeschichten geschrieben. Da ging es fast immer darum, wie schwierig es ist, eine Transperson zu akzeptieren. Wenn ich also die Perspektive einer Transperson eröffnen kann, dann möchte ich das machen. Trotzdem schreibe ich nicht nur über mich selbst. Ich schreibe Fiktion. Und ich möchte nicht, dass das nur als Transstorys wahrgenommen wird und ich als ein*e Transautor*in. In dem Buch, an dem ich jetzt arbeite, kommt auch gar kein Transcharakter vor.

Worum geht es denn in deinem neuen Buch?
Die Kurzfassung ist: Es geht um kleine Schwestern, erstes Verknallt-Sein, Taubheit und die #BlackLivesMatter-Bewegung.

Und wie hängt das nun mit dir und deiner Community zusammen?
Meine Protagonistin ist ein weißes Mädchen, deren Schwester taub ist. Sie freundet sich mit einem Schwarzen Mädchen an, das auch taub ist. Meine Großeltern waren taub, ich bin damit aufgewachsen. Ich glaube nicht, dass mein Job ist, die Geschichte von People of Color zu schreiben. Aber ich sehe meine Aufgabe darin, andere weiße Leute aufzufordern, die Augen aufzumachen und zu sehen, was in diesem Land an Rassismus abgeht – und welche Privilegien wir als weiße haben. Die rassistische Polizeigewalt hier ist erschreckend! Wenn ich also mit meinem ersten Buch sagen wollte: „Steh für dich selbst ein!“, dann will ich mit meinem zweiten Buch sagen: „Sei dir deiner Privilegien bewusst. Sei dir bewusst, dass du nicht immer im Mittelpunkt stehen kannst – selbst wenn du die Protagonistin bist!“ (Lacht)

© FISCHER VerlagAlex Gino: „George“
Fischer Verlag
15 Euro
bereits erschienen

Warum schreibst du für Kinder?
Darauf gibt es zwei Antworten. Die erste lautet: Weil das ist, wie ich schreibe. Die zweite lautet: Ich möchte jungen Leuten Wege eröffnen, über die Welt zu sprechen. Zu sagen, das, worüber ich schreibe, würden sie nicht verstehen oder das müssten sie noch nicht verstehen, lässt die Kids nur allein mit der Realität, in der sie jetzt leben, nicht erst später. Außerdem, zu verschweigen, wie komplex die Welt ist, macht es nicht einfacher, in ihr zurechtzukommen. Im Gegenteil. Es macht es härter und schmerzhafter. Wie Rudine Sims Bishop gesagt hat: „Bücher sind Fenster und Spiegel – mit ihnen können wir in uns selbst und in andere Welten blicken.“

Was waren denn deine liebsten Leseerfahrungen?
Oh mein Gott … So viele! Im Moment bin ich jedenfalls hin und weg von „If I was your girl“ von Meredith Russo. Es ist das erste Jugendbuch über ein Transmädchen, das von einer Transfrau geschrieben wurde. Die Protagonistin geht auf die Highschool und trifft dort einen Jungen … Und das im amerikanischen Süden. Es ist ein erstklassiges Buch.

Alex Gino ist in New York aufgewachsen und lebt heute in Kalifornien. (Bild)