Irrwege der Ökonomie
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Von Maxi Braun
Als vor Kurzem der Westdeutsche Rundfunk zum Funkhausgespräch unter dem Thema „Brauchen wir eine andere Demokratie?“ nach Köln lud, sagte Podiumsgast und CDU-Politiker Stephan Eisel voller Überzeugung: „Wir leben nun gerade in einem System, wo eben die Wirtschaft nicht alles machen kann, was sie will, sondern es gibt Grenzen dazu.“ Das Publikum reagierte mit Gelächter. Diese Anekdote steht exemplarisch für ein Gefühl, das bei vielen Menschen vorherrscht: Ob Finanzkrise, Panama Papers oder Euro-Rettungsschirm – die Wirtschaft ist ebenso allgegenwärtig wie komplex und arbeitet, so scheint es, nicht zugunsten unserer Gesellschaft, sondern einiger weniger Privilegierter.
Kurzum: Alle sind wütend auf die Finanzelite – aber keiner weiß genau warum, geschweige denn, ob und wie man dieses System ändern kann. Ulrike Herrmann, ausgebildete Bankkauffrau und Wirtschaftskorrespondentin der „taz“, schreibt dagegen an. Mit „Hurra, wir dürfen zahlen“ analysierte sie den Selbstbetrug der Mittelschicht, in „Der Sieg des Kapitals. Wie der Reichtum in die Welt kam: Die Geschichte von Wachstum, Geld und Krisen“ versuchte sie, das System Kapitalismus und die Finanzkrise auf verständliche Weise darzulegen. In ihrem neuesten Buch mit dem Titel „Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie oder Was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können“ widmet sie sich den „Irrwegen der Mainstream-Ökonomen“.
Das Buch beginnt mit der These, dass die Mainstream-Theoretiker den Kapitalismus nicht verstanden hätten. Theoretiker*innen kommen übrigens nicht vor. Das ist aber nicht Herrmann anzulasten, denn auch neben den im Titel erwähnten Ökonomen wird die Disziplin von Männern dominiert, siehe Walter Euken, Joseph Schumpeter, Milton Friedman, Paul Krugman oder Thomas Piketty. Der renommierte Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaft wurde seit seinem Bestehen 1969 erst ein einziges Mal an eine Frau vergeben: an die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Elinor Ostrom im Jahr 2009.
Als Mainstream-Theoretiker bezeichnet Herrmann die sogenannten Neoklassiker. Der neoklassischen Theorie zufolge besteht die Wirtschaft, so erklärt die Autorin, aus Tauschprozessen und basiert auf einem Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage. Monopolbildung durch Großkonzerne kommt nicht vor und das gesamtvolkswirtschaftliche Verhalten wird anhand eines exemplarischen und idealen, isoliert gedachten Menschen – dem „Homo oeconomicus“ – prognostiziert. Die Neoklassik ist eine Theorie aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Heutige Neoklassiker*innen argumentieren demnach in einer Blase, in der die Zeit vor der Industrialisierung stehen geblieben zu sein scheint, wie Herrmann kritisiert. Dort existiere ein perfekter, weil sich selbst regulierender Markt, der mit mathematischen Modellen berechenbar scheint, die aber weder Finanzkrisen erklären, noch Fragen nach der Funktionsweise des Geldes oder dem Ursprung des Wirtschaftswachstums beantworten können.
Die Fehlannahmen der Neoklassik wirken dabei nicht nur in der akademischen Disziplin. Ihre Theoretiker*innen arbeiten auch als Berater*innen in Politik und Wirtschaft und nehmen Einfluss auf die Gesellschaft. Unser globales Finanzsystem folgt also nicht unumstößlichen Naturgesetzen, sondern resultiert aus politischen Entscheidungen zugunsten einer neoklassischen Haltung, die als monopolistische Wirtschaftslehre ein System zementiert, zu dem es angeblich keine Alternative gibt. An dieser Stelle kommen Adam Smith, Karl Marx und John Maynard Keynes ins Spiel, deren Fragestellungen und daraus resultierende Theorien eng mit den realen Ereignissen ihrer Entstehungszeit verbunden sind. Auf kompakten zweihundert Seiten führt uns Ulrike Herrmann durch die etwas mehr als zwei Jahrhunderte alte Geschichte der Wirtschaftstheorie.
Was eher trocken klingt, ist ein spannender und verständlicher Abriss der modernen Ökonomik – beginnend bei Smith, dem Begründer der modernen Volkswirtschaftslehre, über Marx, der als Erster die prozesshafte Dynamik des Kapitalismus noch vor dessen vollständiger Entfaltung beschrieb, bis hin zu Keynes, der die erste allgemeine makroökonomische Theorie vorlegte und erkannte, dass der Kapitalismus durch Spekulationen getrieben wird und Sparen sich nur aus betriebs-, nicht aber aus volkswirtschaftlicher Perspektive lohnt. Anfangs mag es irritierend wirken, dass die Autorin nicht nur biografische Eckdaten der genannten Theoretiker nennt, sondern auch Details aus deren Privatleben einfließen lässt. Jedoch helfen diese, deren Denkweise im historischen Kontext zu verstehen und Zusammenhänge sichtbar zu machen.
Ulrike Herrmann: „Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Krise der heutigen Ökonomie oder Was wir von Smith, Marx und Keynes lernen können“
Westend, 288 Seiten, 18 Euro
Im Abschlusskapitel schlägt sie eine Brücke zu den Problemen unseres heutigen Wirtschaftssystems, indem sie die Fehlschlüsse der Neoklassiker*innen bezüglich Preis- und Lohnbildung, Handelspolitik oder Euro-Rettungsschirm zusammenfasst. Sie fordert die Wirtschaftswissenschaft dazu auf, Smith, Marx und Keynes verstärkt an den Universitäten zu lehren, dadurch das herrschende Paradigma der neoklassisch dominierten Lehre aufzuknacken und so zukünftige, alternative Theorieansätze zu ermöglichen. Als dynamisches und widersprüchliches System begriffen erfordere der Kapitalismus nicht die eine „wahre“ Theorie, sondern verschiedene Erklärungsansätze.
Nach der Lektüre von „Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung“ hat man vielleicht nicht alle Begriffe unseres Wirtschafts- und Finanzsystems durchschaut. Ulrike Herrmann gelingt es aber, das Interesse für Ökonomie und die ihr zugrunde liegenden Denkmodelle und Theorien zu wecken und vermeintlich unumstößliche Marktgesetze zu hinterfragen. Das liegt auch an ihrer klaren, schnörkellosen Sprache. Durch ihre Darstellung wird deutlich, dass der Neoliberalismus mit all seinen Symptomen kein Naturgesetz ist, sondern Folge politischer Entscheidungen, die auch wieder rückgängig gemacht werden können – wenn es denn den politischen Willen dazu gibt. Um diesen in einer Demokratie zu artikulieren, braucht es aber Bürger*innen, die das herrschende Finanz- und Wirtschaftssystem verstehen. Der Soziologe Pierre Bourdieu prägte einst die Forderung nach der „ökonomischen Alphabetisierung“ der Massen. Ulrike Herrmanns Buch und ihre publizistische Arbeit leisten dazu zweifelsohne einen wichtigen Beitrag.