(Disclaimer: Dieser Text behandelt die Themen Menschenhandel, Genozid und sexualisierte Gewalt.)

Von Leyla Yenirce

Am 10. Dezember wird der Nobelpreis vergeben. Die diesjährigen Gewinner*innen wurden bereits am 7. Oktober verkündet, gewonnen hat den Friedensnobelpreis der kolumbianische Präsident Juan Manuel Santos für seinen Einsatz gegen den Bürgerkrieg in Kolumbien. Die Friedensnobelpreisträgerin meines Herzens aber ist eine andere nominierte Person, Nadia Murad Basee Taha.

UN Generalversammlung. Bundesminister Sebastian Kurz trifft Nadia Murad Basee Taha. New York, 19.09.2016 © Dragan Tatic/CC 2.0
UN Generalversammlung. Bundesminister Sebastian Kurz trifft Nadia Murad Basee Taha. New York, 19.09.2016 © Dragan Tatic/CC 2.0

Nadia war eine von vielen Hunderten Frauen, die in dem yezidischen Dorf Kocho nahe der Stadt Sinjar im Nordirak lebten. Im August 2014 marschierte der sogenannte Islamische Staat in das yezidische Siedlungsgebiet und massakrierte die religiöse Minderheit. Männer wurden umgebracht, Jungs in Dschihadcamps verschleppt und Frauen und Mädchen auf Sklavenmärkten verkauft. Noch immer befinden sich schätzungsweise über 3000 Frauen und Kinder in der Gefangenschaft der Terrormiliz. Einige von ihnen schafften die Flucht. So auch Nadia. Sie wurde nach ihrer Entführung in Syrien festgehalten, mehrfach verkauft, vergewaltigt und versuchte zu fliehen. Die erste Flucht scheiterte. Nadia versuchte durch ein Fenster zu entkommen, aber wurde sofort entdeckt.

Die Strafe für einen Fluchtversuch: Massenvergewaltigung. „Sie nennen es den sexuellen Dschihad“, erzählt sie in einem Interview mit der BBC. Die Misshandlungen dauerten so lange an, bis sie das Bewusstsein verlor. Trotzdem kämpfte sie weiter, versuchte die Flucht erneut. Dieses Mal gelang es ihr, sie fand Schutz bei einer muslimischen Familie, die ihr helfen wollte. Sie gaben Nadia einen muslimischen Ausweis und eine Abaya, ein langes Stoffgewand, um sie unbemerkt aus dem IS-Gebiet an die Grenze zu bringen. Von dort aus gelangte sie zurück in die Stadt Dohuk in den Irak zu anderen yezidischen Geflüchteten und meldete sich und ihre Schwester für ein Traumatherapie-Programm in Baden-Württemberg an, an dem mittlerweile über 1000 yezidische Frauen und Kinder teilnehmen. Kurze Zeit später sagte sie als Zeugin der IS-Verbrechen vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag aus.

Eine Bekannte lebt in Norddeutschland und übersetzt die Traumatherapie von Nermin[1]. Sie war 15 Jahre alt, als der IS sie entführte. Auch Nermin wurde mehrfach vergewaltigt und hat ihren Vater im August 2014 verloren. Durch eine Hilfsaktion konnte sie fliehen. Jetzt lebt sie alleine mit ihrer Mutter und ihren Geschwistern in Deutschland. Sie befand sich ebenfalls in therapeutischer Behandlung, aber brach die Therapie auf eigenen Wunsch ab. Zu groß war die Scham und der Schock, das Erlebte wieder hervorzubringen und zu verarbeiten. Sie brauche das nicht, darüber sprechen. Sie möchte verdrängen und vergessen. Auf die Frage, ob sie ebenfalls vor dem Internationalen Gerichtshof aussagen wolle, antwortet sie: „Ich bin nicht Nadia Murad. Ich bin nicht so mutig.“ Denn für viele von diesen Frauen und Mädchen bedeutet Nadia Murad, das Erlebte nach außen zu tragen, sich als Betroffene zu bekennen und der Gesellschaft zu erzählen, was ihnen widerfahren ist. Zu erzählen, dass sie sexuelle Gewalt erfahren mussten, dass sie vergewaltigt und gefoltert wurden. Die Angst vor einem gesellschaftlichen Stigma ist groß.

Aber dann taucht das Gesicht von Nadia auf. Ihr Blick sieht auf den vielen Pressefotos oft traurig und ernst aus, es ist gezeichnet von ihrem Leiden. Ihre Worte jedoch sind mutig und fordern Gerechtigkeit und ein Ende des Genozids an der yezidischen Bevölkerung. Mit ihren Aktivitäten ist sie zu einem Symbol des Widerstands und der Resilienz yezidischer Frauen geworden. Zu wissen, dass ihre Person sich durch diese Gesellschaft bewegt und für die Befreiung der yezidischen Frauen einsetzt, macht Mut und gibt Hoffnung. Vielleicht kann auch Nermin irgendwann ein Stück davon finden und ein erfülltes Leben leben. Das klingt naiv, weil auf den Schultern Nadias nicht die Rettung aller dieser Frauen und Mädchen lastet und ausgetragen werden kann, doch es sind diese großen Heldinnen, die verhindern zu resignieren. Sie empowern und werden zu Multiplikatorinnen. Und das ist so wichtig. Wir brauchen diese Nadias für alle Frauen und Mädchen, die von sexueller Gewalt und Genozid betroffen sind, ob durch die Terrormiliz IS oder Boko Haram. Denn was bleibt anderes übrig, wenn Männer Frauen und Mädchen misshandeln und sie im Rahmen von Kriegsverbrechen instrumentalisieren?

Mittlerweile ist Nadia Sonderbotschafterin der Vereinten Nationen für die Würde der Betroffenen von Menschenhandel und erhielt am 10. Oktober den Václav-Havel-Preis für Menschenrechte, verliehen von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Den Friendensnobelpreis hätte ich dir auch noch gewünscht, Nadia Murad Basee Taha, denn die Gewinnerin meines Herzens bist du ohnehin schon.

[1] Name geändert