Von Judith Köneke

Kate Tempest ist gerade überall, jede*r widmet ihr ein paar Zeilen, wenn nicht gleich mehrere Seiten. Zu Recht! Die Musikerin, Autorin und Dichterin hat viel zu sagen. Gerade ist das zweite Album der Engländerin erschienen. Ihre Songs, zwischen HipHop und Spoken Word, sind alles andere als oberflächliches Blabla, genauso wenig wie ein Gespräch mit ihr – wir haben die 30-Jährige in Berlin getroffen.

 © Hayley Louisa Brown
Kate Tempest © Hayley Louisa Brown

Kate, dein neues Album heißt „Let Them Eat Chaos“, das klingt nach Herrschaftskritik?
Die französische Königin Marie Antoinette soll ja den Satz gesagt haben „Lasst sie doch Kuchen essen“, als die Armen sich kein Brot mehr leisten konnten. Mein Albumtitel soll einerseits ein humorvoller Twist sein, um zu zeigen, in was für getrennten Welten die Menschen auch heute noch leben, aber gleichzeitig auch die Ernsthaftigkeit verdeutlichen, die dahintersteckt.

Das Album beginnt im Weltall und zoomt nach London, in die Wohnungen von sieben Menschen. Warum hast du diesen Weg gewählt?
Die Perspektive war sehr hilfreich, um die Hörer*innen in die Geschichte mitzunehmen. Denn es war schwer, eine Story aus einzelnen Songs zu kreieren. Ich hatte schließlich keine*n Erzähler*in. Aber der Zoom ermöglicht es mir, die begrenzten persönlichen Erfahrungen mit der Weite der Realität zu vergleichen. Und die Realität liegt genau dort, zwischen dem, was wir dafür halten, und dem, was tatsächlich passiert.

Du rappst über Vertreibung, Europakrise oder Abstumpfung gegenüber den Medien. Überlegst du dir vorher, welche Botschaft du mit deinen Songs rüberbringen willst?
Niemals. Ich fange mit Ideen an und gucke, was passiert. Ich beginne nie mit einer politischen Idee oder Botschaft, damit vertreibt man nur Ideen, bevor es losgeht. Ich verfolge Gedanken, bis ich Charaktere und ein Szenario finde. Man muss darauf vertrauen, dass jede Botschaft, die man mitteilen will, schon in seinem Werk enthalten sein wird. Alles, was ich wichtig finde, alles, was ich fühle, wird herauskommen – aber nur, wenn ich nicht danach frage.

Und welche Botschaften sind das?
Das kommt in meinen Werken klar und deutlich rüber: Liebe, Mitgefühl und Hoffnung, außerdem das Kämpfen um Mitgefühl. Und ehrlich zu sich selbst zu sein.

Deine Songs spielen im Südosten Londons, wo auch du lebst und aufgewachsen bist. Hast du es nicht satt, darüber zu schreiben?
Das ist mein Zuhause, der einzige Ort, an dem ich je gelebt habe. Dort habe ich gelernt, wie und wer Menschen sind. Es gab so viel, was ich ausdrücken wollte, so viel, was London mir beigebracht oder gegeben hat. Meine Arbeit ist schließlich ein Prozess, über das, was ich durchgemacht habe als Mensch. Im Moment fühlt es sich an, als hätte ich alles gesagt, meine Kindheit ist vorbei, meine Jugend ist vorbei, London ist vorbei. Kreativ und mental fühle ich mich, als wäre ich irgendwo anders. Aber wer weiß, vielleicht werden meine Songs und Geschichten immer hier spielen.

In deinem Song „Europe Is Lost“ sprichst du über die politischen und sozialen Zustände Großbritanniens. Siehst du dein Lied jetzt, nach dem Brexit, in einem anderen Licht?
Als Rapperin, Autorin und Musikerin ist es mein Job, die Welt um mich herum zu beobachten und das aufzuschreiben, was ich feststelle. Und manchmal, gerade weil man so genau geguckt hat, fühlt es sich an, als würde man über eine utopische Zukunft sprechen, dabei ist einer*m nur etwas aufgefallen. Die simple Liedzeile „massacres, massacres / new shoes“ hört sich erschreckend an, aber genauso konsumieren wir: Nachrichten, Kultur, die Realität. Das Lied ist für mich immer noch das, was es damals war.

Hat dich der Brexit nicht überrascht?
Doch, der Brexit hat mich natürlich schockiert. Es ist kompliziert, sich dazu zu äußern. Ich zermartere mir das Hirn, ob es der Anfang vom Ende der Welt ist oder das Ende vom Anfang der Welt ist.

Deine Texte sind sehr komplex, sie sollen sogar als kleines Buch erscheinen. Oft läuft Musik ja nebenbei, während wir uns unterhalten, im Hintergrund, das scheint bei deinen Liedern kaum möglich …
Ich könnte mir nichts Schlimmeres vorstellen, als dass Menschen mein Album hören, während sie abhängen und eine gute Zeit haben wollen. Denn es ist sehr emotional und persönlich – in dem, was es fragt und gibt. Es eignet sich eher, um es alleine zu hören oder während man unterwegs ist, vielleicht durch die Stadt fährt oder läuft. Ich liebe es, Musik zu hören, unterwegs zu sein, das hilft mir, in ein Album einzutauchen.

Manche Medien bezeichnen dich als „Stimme einer Generation“, ehrt dich das?
Nein, das gefällt mir gar nicht. Wir leben in einem Moment, in dem wir noch nie waren, so wie alle anderen Generationen zuvor. Wir haben keine Vorbereitung für die Zeit, in der wir leben, obwohl es die Einzige ist, die wir kennen. Ich spreche nicht für irgendjemanden, sondern nur zu und mit meiner Community.

Du schreibst Gedichte und Stücke, gerade ist dein neuer Roman „Worauf du dich verlassen kannst“ erschienen, nebenbei tourst du, wie schaffst du das?
Ich habe drei Jobs, bin Dramatikerin, Musikerin, Dichterin. Gleichzeitig war ich auf Tour. Es ist verdammt schwierig, nebenbei noch einen Roman zu schreiben. Von der ersten Idee bis zur Veröffentlichung hat es drei Jahre gedauert. Manchmal vergingen Monate, dann schaffte ich wieder zwei Wochen am Stück zu schreiben. Ich habe versucht, zwischen Aufnahmen im Studio Zeit zu finden, oder schrieb hinten im Tourbus. Aber es gibt meiner Arbeit auch eine bestimmte Energie. Es wäre toll, wenn ich mal ein Jahr freinehmen könnte, nur um zu schreiben. Doch als Musikerin muss ich touren und mit Journalist*innen sprechen.

Fühlt es sich komisch an, berühmt zu sein?
Ich lebe am gleichen Ort, an dem ich schon immer gelebt habe. Alle wussten, dass ich Musik mache. Ich werde jetzt erkannt, das ist komisch, weil ich nicht mehr anonym bin. Aber die Leute wissen, dass ich nicht berühmt sein will, sondern nur arbeiten will. Die meisten respektieren das.

kate_tempest Kate Tempest: „Let Them Eat Chaos“
(Caroline/Fiction) bereits ersch.

Du hast mit 16 angefangen zu rappen, war es schwierig, sich als Frau zu behaupten?
Sehr schwer. Aber dadurch bin ich tough und ausdauernd geworden. So wie wohl alle Frauen, die sich in einer von Männern dominierten Sphäre behaupten müssen. Es lehrt dich, dich selbst ernst zu nehmen, weil es niemand sonst macht. Du musst genau wissen, was du sagen willst und warum, denn alles wird angezweifelt. Wenn du gehört und nicht nur angeguckt werden willst, musst du dafür kämpfen und eine Reihe von Rückschlägen hinnehmen. Jahrelang wurde ich verurteilt und ausgelacht, schreckliche Sachen wurden über mich und meinen Körper gesagt. Da ich in diesem männlich dominierten Umfeld nicht willkommen war, bin ich selbst sehr maskulin geworden, eben um dort stark zu sein. Ich habe einige Zeit gebraucht, um festzustellen, das meine Stärke genau da liegt, wo meine Femininität und meine Maskulinität zusammenkommen. Seitdem ich mich selbst gefunden habe, ist der Rest egal.

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Tourdaten

01.11. Frankfurt, Sankt Peter

02.11. Berlin, Astra Kulturhaus

03.11. München, Muffathalle