Von Amelia Umuhire

Disclaimer:
Im folgenden Text taucht das N-Wort unzensiert auf. Ich wurde selten davor verschont, es in seiner hässlichen Fülle zu hören, und bin davon überzeugt, dass es in einem Text, in dem es um die Wirkung des Wortes geht, zu erkennen sein sollte.

Es ist Donnerstagabend und eine sehr gute Freundin ist zu Besuch. Wir trinken und rauchen und kommen durch ein Gespräch über Kinder auf unsere unterschiedlichen Kindheiten zu sprechen. Plötzlich fragt sie mich, wann ich das erste Mal in meinem Leben das Wort „Neger“ oder „Nigger“ zu hören bekommen habe. Ich freue mich über die Frage und bin gleichermaßen verblüfft, da es tatsächlich das erste Mal ist, dass sie mir jemand stellt. Auf der Suche nach einer Antwort gehe ich in meinem Kopf verschiedene Szenen aus meiner Kindheit durch.

Durch die Zusammenwirkung von Kontext, Intention und Reaktion bekommt das Wort viel Gewicht. © Tine Fetz

Ich erinnere mich an einen meiner ersten Schultage in Deutschland, als David Blüma in der Pause vor mir steht und mir seinen Mittelfinger ins Gesicht hält, während er gleichzeitig einen affenähnlichen Tanz vorführt. Doch streng genommen zählt dieser Vorfall nicht, da er das Wort nie ausspricht. Auch wenn die Kombination aus Tanz und Mittelfinger dazu führt, dass ich mich zum ersten Mal wie einer fühle.

Nach und nach erinnere ich mich an ähnliche Ereignisse und gehe sie wie bei einer erfolgreichen Google-Suche nach Relevanz durch. Dabei sind die Kategorien, die zur Einschätzung und Einstufung der Relevanz dienen, Kontext, Intention und Reaktion.

Denn wenn dem großen, vermutlich Basketball spielenden Weißen, der beim RZA-Konzert neben dir steht, beim Mitsingen des Textes seines vermeintlichen Lieblingsrappers das Wort entgleitet, ist seine Intention nicht unbedingt böse und deine Freunde werden so tun, als hätten sie es nicht gehört. Und selbst wenn du darauf bestehst, ihn darauf aufmerksam zu machen, so wird er auf dein Naserümpfen hin seine Hände hochhalten und sich ungefähr so entschuldigen, wie man sich entschuldigt, wenn man jemanden auf der Straße anrempelt.

Ein Fall wie das des mitsingenden, vielleicht Basketball spielenden, weißen Typen taucht auf ca. Seite 14 der Suchergebnisse auf. Doch weiter vorne finde ich ein weiteres Ereignis, das veranschaulicht, wie eine Situation aussehen kann, in der die Zusammenwirkung von Kontext, Intention und Reaktion die Wirkung des Wortes in die Höhe schießen lässt. Ein Rassismus-Kopfstoß, wenn du so willst.

Diesmal auf dem Gymnasium. Ich laufe also eines Tages kichernd mit meinen Freundinnen den Flur entlang, als sich Paul Galesch, ein Klassenclown, der regelmäßig seine Intelligenz und Langeweile erfolgreich in Grausamkeit umwandelt, vor mich stellt und mir LENOR ins Gesicht schreit. Ich verstehe nicht, was er damit sagen will, und meine ausbleibende Empörung veranlasst ihn dazu, mir die Bedeutung jetzt in einer leiseren, aber immer noch sehr klaren Stimme zu erläutern. Leib Eigener Neger Ohne Rechte.

Meine Freundinnen schütteln mit dem Kopf und schauen erst mich und dann ihn mit einer abwechselnden Mischung aus Empörung und Scham an. Wir alle wollen aus unterschiedlichen Gründen nicht weiter darüber sprechen, also wechseln wir peinlich berührt das Thema.

Eine Reaktion, die ich noch öfter in Kombination mit besoffenen, aggressiven und dadurch scheinbar unweigerlich rassistischen Männern an Karneval und anderen größeren Veranstaltungen erleben werde. Nach der Pause hängt mir das Ganze dennoch nach. Ich beschließe, es zu melden und dabei strategisch vorzugehen.

Ich gehe zu Frau Wolther, der linken Pädagogik-Lehrerin meines Vertrauens, die sich oft und auch unaufgefordert als 68er-Feministin bezeichnet. Sie ist eine von den Lehrer*innen, die mir auf sehr unterschiedliche Weise das Gefühl geben, dass ich Potenzial habe.

Manchmal schreibt sie mir sehr detailliertes und ermunterndes Feedback unter eine gute Klassenarbeit und lobt meine „flotte Schreibe“. Und manchmal, da steht sie während des Sportfests ohne ersichtlichen Grund am Feldrand und prophezeit mir oder (wie sie liebevoll zu sagen pflegt) der „schwarzen Gazelle“ lautstark Rekordläufe.

Als ich also bei Frau Wolther ankomme und ihr von meinem American-History-X-Moment in der Pause erzähle, reagiert sie zunächst so, wie ich es mir erhofft habe. Sie lässt Paul mithilfe einer mysteriösen Durchsage aus der Klasse rufen und schon nach wenigen Minuten stehen wir drei etwas unbeholfen im Flur vor dem Lehrerzimmer. Es ist peinlich ruhig.

Sie fordert ihn auf sich zu entschuldigen und schafft es dabei, nie auszusprechen, was er eigentlich gesagt hat. Und er gibt mir, ohne jegliche Anzeichen von Widerwillen, die Hand und entschuldigt sich dafür, dass er mich beleidigt hat.

Die von mir als weiße Whoopi Goldberg völlig fehlbesetzte Frau Wolther schweigt zu der besonderen Schwere der Beleidigung. Ich werfe ihr einen leicht enttäuschten Blick zu, der sie wie erhofft sichtbar unter Druck setzt. Sie geht leicht in die Knie und diese neue Position macht, dass ich kaum bemerke, wie ihre Stimme eine kindliche Färbung bekommt.

„Und das nächste Mal wenn so etwas passiert, nennst du ihn einfach Kalkeimer …“ Ich stocke. Nach einer sehr kurzen Pause und in einem Ton, als beantworte sie eine Familienduell-Frage, fügt sie noch hastig hinzu:

„… oder Toastbrot.“